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Re: Regalhaltung ist Literaturquaelerei (AW: Buecher einfach liegen lassen)



Falls man die Sache für einen Augenblick mal etwas abstrakter
betrachten wollte: der hier aufscheinende Metaphernkonflikt zwischen
Regalhaltung=Quälerei und Bookcrossing=Freiheit läßt sich sehr schön
übersetzen in den Konflikt zwischen Archiv und (kulturellem)
Gedächtnis. Im kulturellen Gedächtnis findet sich all das, was
tatsächlich erinnert wird, während sich im Archiv nur das findet, was
potentiell erinnert werden kann, faktisch aber zum Großteil vergessen
ist.

Was in der Öffentlichkeit gerne übersehen wird (und Bibliothekare
tragen wenig dazu bei, dieses Übersehen einzuschränken), ist die
Tatsache, daß keine Gesellschaft es sich leisten kann, nur ein
kulturelles Gedächtnis ohne Archiv zu haben. Die meisten Menschen
tendieren dazu, das Archiv als unnütz zu betrachten (alter Krams,
völlig verstaubte Scharteken) und einen Nutzen nur in dem zu sehen,
was im kulturellen Gedächtnis gerade präsent ist: das, was da präsent
ist, transportiert den Schein einer selbstverständlichen Aktualität,
gegen die kein Archivgut ankommen kann.

Die Pointe ist natürlich die, daß es darauf ankommt, in welcher Weise
die Austauschprozesse zwischen Archiv und kulturellem Gedächtnis
gestaltet sind. Denn ein kulturelles Gedächtnis ohne Archiv liefe sich
rasch tot, und ein Archiv ohne kulturelles Gedächtnis wäre wirklich
nur noch von der Qualität nichtssagender (aber vielleicht
geheimnisvoller) Steine. Und die weitere Pointe ist dann die, daß
Bibliotheken sowohl dem kulturellen Gedächtnis als auch dem Archiv
zugerechnet werden müssen und im Grunde nichts weiter tun, als die
Austauschprozesse zwischen diesen beiden Speicherarten zu
organisieren.

Uwe Jochum


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