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Re: "Bibliothekare zur R-Reform"



> 1. Bei den ss/ß-Schreibungen hat es in der Praxis schon immer sehr
> beträchtliche Schwankungen gegeben, weil nun einmal erhebliche
> Unsicherheit bestand (und besteht), ob man muß oder muss schreibt, Streß
> oder Stress, Straße oder Strasse usw.

Verzeih'n Sie, aber von dieser Unsicherheit hatte ich vor der Reform
niemals etwas mitbekommen. VOR der Reform wurde sehr sauber gedruckt
(wie privat geschrieben wurde, kann man ja kaum wissen) und Einhaltung
der ß/ss-Regeln. Seit der Reform kann man aber das erleben: Der gerade
erschienene Briefwechsel Hannah Arendt -- Uwe Johnson (Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 2004) ist in den Herausgeberkommmentaren in der ALTEN
Orthographie gesetzt; in der editorischen Notiz steht nun aber u.a. zu
lesen: "Der Edition liegt das Bemühen zugrunde, die ursprüngliche
Gestalt der Korrespondenz soweit als möglich zu bewahren. Zum Beispiel
wurden Eigenheiten der Schreibweise, vom Doppel-'ss', wo es weder alte
noch neue Rechtschreibung vorsehen ('grüsst'), über Johnsons
eigenwillige oder Arendts vom Amerikanischen beeinflusste [und schon
ist's passiert!] Interpunktion bis hin zur unsystematischen
Umlautschreibweise ('Im Uberigen...grüsst') übernommen wie
vorgefunden." (S. 334)

> In der Realität außerhalb des
> Wörterbuchs existierten schon immer jeweils beide Formen nebeneinander -
> von der Variante sz (siehe z.B. das Grimmsche Wörterbuch!) ganz zu
> schweigen. Für die Recherche ist es also unerheblich, ob im Wörterbuch ß
> oder ss steht; beide Formen müssen gesucht werden, zumal ss immer die
> Notlösung darstellte, wenn ß nicht vorhanden war oder als nicht
> fortschrittlich empfunden wurde - in der Schweiz war diese Notlösung
> ohnehin längst offizielle Norm (sogar in der Handschrift). In diesem
> Bereich nützt die Rücknahme dem Bibliothekar gar nichts, wie mir
> scheint.

Doch, die Rücknahme nützt auch hier, weil es neben der Orthographie
auch um die Graphie und damit die Gestalterkennung geht. "Nussschale"
ist ein Gestaltungetüm, "Nußschale" nicht. Weitere Beispiele nach
gusto.

> 3. Etwas anders sieht es bei den Dreifachkonsonanten aus. Das ist der
> Fall "Brennessel" vs. "Brennnessel". Es läßt sich nicht leugnen, dass
> hier neue Varianten für die Recherche entstanden sind. Aber man bedenke:
> In diesem Bereich würde die Rücknahme der Reform die Rückkehr zu einer
> Regelkombination bedeuten, nach der Schiffahrt mit ff geschrieben wird,
>   Sauerstoffflasche dagegen mit fff, bei der Silbentrennung aber beide
> Wörter mit ff-f! Kann man das wollen?

Ja, kann man, weil es hier um das Problem der Ligaturen geht. ff ist
eine Ligatur, fl eine andere, so daß man in 'Sauerstoffflasche' zwei
Ligaturen nacheinander hat, die aber, siehe oben, graphisch und damit
als Gestalt gut aussehen. "Schifffahrt" ist dagegen die Erfindung von
Linguisten, die ihre Bücher offenbar gewöhnlich mit ligaturfreien
Schreibmaschine oder ligaturlosen Schreibprogrammen schreiben. Wie es
scheint, saßen diesmal in der Kommission keine Drucker; bei Duden in
der Kommission um 1900 saßen Drucker mit drin!

> Aber wenn eine so eklatant unlogische Regel einmal beseitigt
> wurde, kann dann ihre Restitution wirklich ernsthaft gefordert werden?
> Ich wage die Vorhersage: Die Ästhetik der Logik wird sich gegen die
> Ästhetik der Gewohnheit durchsetzen.

Umgekehrt könnte ein Schuh draus werden: Die Logik der Ästhetik setzt
sich hoffentlich wieder gegen die Logik einer an Leibniz orientierten
Suche nach einer Idealsprache mit Idealorthographie nach algorithmisch
beschreibbarem Regelsatz durch.

Uwe Jochum

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