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AW: Bibliothekare und Bertolt Brecht zur RSR[Scanned]



So, jetzt wissen wir es aber wieder ganz genau. Und wie sagt der Wuerzburger
Kabarettist Frank-Markus Barwasser alias Erwin Pelzig: "Wer weiss, wo er
herkommt, weiss auch, wo er gewesen ist."

Frohes Schaffen,
Ihr S. Kuttner

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Dr. Sven Kuttner, BR
UB Muenchen
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 Muenchen
Tel: (089) 2180-5455
Fax: (089) 2180-2786
E-Mail: Sven.Kuttner@xxxxxxxxxxxxxxxxxx
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-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: owner-inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx
[mailto:owner-inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx] Im Auftrag von Walther Umstätter
Gesendet: Mittwoch, 28. Juli 2004 19:56
An: Internet in Bibliotheken
Betreff: Re: Bibliothekare und Bertolt Brecht zur RSR[Scanned]

Sehr geehrter Herr Jochum,

Ihre Aussage: "Evolution hingegen ist der großangelegte Versuch, ohne
Zielursachen und also gänzlich ohne Teleologie auszukommen."
gibt die Bemühungen in der Biologie richtig wieder. Man geht nicht von einer
Zielgerichteten Evolution im Sinne einer Teleologie aus, obwohl auch dies im
Sinne einer Teleonomie etc.
immer wieder hinterfragt werden muss, und auch hinterfragt wird.

Der scheinbare Widerspruch zur realen Evolution vom Bakterium zum Homo
sapiens, also zum Menschen mit Sprache und Bewusstsein, bleibt aber damit
offen.
Er kann z.Z. nur durch eine Strategie erklärt werden, die zwar kein Ziel hatte
(zumindest kennen wir es noch nicht), die aber in der Phylogenie eindeutig
Menschen hervorbrachte, die nicht nur ein inneres Modell von dieser Welt zu
erzeugen vermochten (das können Tiere auch), sondern dieses auch noch in
Sprache untereinander kommunizieren können.

Wie beispielsweise ein Brocasches Zentrum aus komplex neuronalen
Begrifflichkeiten, Benennung macht, die wir dann auch noch aussprechen und in
ganze Sätze fassen können, ist faszinierend.
Das alles ist zweifellos über Jahrmillionen aufgebaut worden und genetisch
fixiert.

Ihre äußerst verwegene Behauptung, die Rechtschreibreform sei ein Vorgang,
"der mit Evolution nicht das geringste ... zu tun hat." vernachlässigt die
Tatsache, wie weit Sprache im Menschen genetisch verankert ist. Es ist
unzweifelhaft, dass die Rechtschreibreform sehr viel mit Sprachgefühl zu tun
hat.
Das  ist doch gerade der Punkt, dass sich viele Menschen in ihrem Sprachgefühl
von einer kleinen Minderheit vergewaltigt fühlen.
Sprachgefühl ist aber nichts anderes als ein zunächst unterbewusstes und durch
Erfahrung modifiziertes genetisch fixiertes Sprachverhalten.
Hier unterscheidet die Biologie zwischen Mutation und Modifikation.

Im Sinne Huxleys, der sich über die Evolutionstheorie (wir sprechen heute
berechtigterweise zunehmend von Evolutionsstrategie) mit Wilberforth stritt,
müsste ich sagen: Haben Sie schon einmal einen Affen gefragt, warum er nicht
mit Ihnen spricht?
Vermutlich kennen Sie auch die zahlreichen Bemühungen von
Verhaltensforscherinnen, das zu erreichen.

Die Evolutionsstrategie kennt übrigens auch Atavismen (die der Mensch mehrfach
durchlaufen hat).
Das sind im Prinzip nichts anderes als revolutionäre Einschnitte in der
Phylo- und Ontogenie.

Wie ich sehe begrenzt Ihre Spracherfahrung das Wort Revolution auf die
Politik(wissenschaft), weil  Sie es mit "zielgeleitetem Handeln" verbinden.
Haben Sie sich aber schon einmal gefragt, wie stark Revolutionen, Kämpfe
zwischen Parteien, Gruppen, Horden, Menschen oder Tieren, wirklich bewusste
Auseinandersetzungen sind.
Verhaltensforscher und Philosophen diskutieren z.Z. gerade auf der Basis des
Libet-Experiments, ob es einen freien Willen des Menschen überhaupt geben
kann.
Im Prinzip weiß jeder, dass es einen solchen freien Willen natürlich gibt, es
ist aber nicht trivial die Fehlinterpretation des Libet-Experiments zu
erkennen.

Wenn Sie einem Biologen, der sich seit über drei Jahrzehnten mit
Evolutionsstrategien und mit der damit verbundenen Selbstorganisation von
Wissen beschäftigt, schreiben, er rede "nicht mehr von Evolution, sondern von
etwas anderem."
dann sollten Sie das möglicherweise überdenken.

Ihr scheinbar logischer Schluss, "die Evolution kann gar keine "Strategie"
haben, eben weil sie nicht teleologisch ist".
Ist leider falsch. Die Evolution muss eine "Strategie" haben, eben weil sie
nicht im Sinne der Griechen teleologisch sondern
wahrscheinlichkeitstheoretisch bedingt ist, und stufenweise (über gradualness,
wie es Darwin nannte) höhere Lebewesen hervorgebracht hat.

Genau in dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen Voraussetzung liegt auch die
fundamentale Bedeutung der Informationstheorie, von der wir uns somit fragen
müssen, ob diese Welt nicht nach dem selben Grundprinzip einer
wahrscheinlichkeitsbedingten Informationsstrategie aufgebaut ist. Wäre das
nicht ein faszinierender Gedanke in der Fortführung von Monods Zufall und
Notwendigkeit?


MfG


Walther Umstätter


Uwe Jochum wrote:

>Lieber Herr Umstätter,
>
>in Ihrer Mail mischen sich wiederum in äußerst bunter Weise zwei
>gänzlich verschiedene Konzepte, die, man mag sich da anstrengen wie man
>will, nicht kompatibel sind: Evolution ist ein Begriff für die
>Entwicklung natürlicher Systeme, Revolution dagegen ein
>Handlungsbegriff aus der Politik(wissenschaft) und
>Geschichte/Geschichtswissenschaft. Letzterer meint immer, daß Handeln
>als teleologisch zu verstehen ist und daß genau die von reflektierenden
>Subjekten geführte Auseinandersetzung um die Ziele und dann um die
>Methoden und Mittel der Zielerreichung der springende Punkt ist; das
>Konzept der Evolution hingegen ist der großangelegte Versuch, ohne
>Zielursachen und also gänzlich ohne Teleologie auszukommen.
>
>Es ist nun mehr als evident, daß die Rechtschreibreform ein Vorgang
>ist, der mit Evolution nicht das geringste, mit Revolution oder
>überhaupt mit zielgeleitetem Handeln und der Auseinandersetzung um
>Ziele sehr viel zu tun hat. Ebendeshalb DISKUTIEREN wir die Sache hier
>ja auch: weil wir uneins sind und verschiedene politische Konzeptionen
>aufeinandertreffen. Ihr Versuch, die Rechtschreibreform in eine
>"Evolutionsstrategie" einzubetten, verkennt diese politische Dimension;
>und ist auch amüsant, denn schon der Begriff konterkariert sich selbst:
>die Evolution kann gar keine "Strategie" haben, eben weil sie nicht
>teleologisch ist; und wenn Sie das Gegenteil meinen, reden Sie nicht
>mehr von Evolution, sondern von etwas anderem.
>
>Uwe Jochum
>
>
>
>
>


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