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Re: [InetBib] Wissen und Klassenrassismus



Ich möchte beiden Kolleginnen antworten:
Kennnen Sie eigentlich das deutsche Bibliothekssystem (oder auch das in anderen Ländern)?

Bourdieu ist nicht nur hilfreich, die Bildungspolitik der Segregation in Deutschland zu verstehen, er ist auch ein guter Ansatz, um über Bibliotheken in den entwickelten Gesellschaften nachzudenken und sie an die heutigen Bedürfnisse des Publikums anzupassen.

Vordringlich ist dabei meines Erachtens die Auflösung der Grenzen zwischen dem wissenschaftlichen und dem sog. Öffentlichen Bibliotheken. Sonst wird die Öffentliche Bibliothek immer mehr zur Hauptschule des Bibliothekswesens. Manche sind es schon heute. Wer das nicht glaubt, fahre einfach einmal von der Autobahn ab in den nächst größeren Ort oder steige einfach einmal an einem Bahnhof einer Mittelstadt aus dem Zug:

- das Volk ist nicht so tümlich, wie viele von uns vielleicht noch glauben. Ich erlebe den Informationsbedarf durchweg als sehr anspruchsvoll und das ist wohlgemerkt schichtenunabhängig. Oft ist er mit Beständen und Ressourcen unserer Bibliothek nicht angemessen zu befriedigen.

- die finanziellen Mittel unserer Gesellschaft reichen nicht, um zwei Bibliothekssysteme (ÖB und WB)nebeneinander dem Bedarf einer entwickelten Gesellschaft entsprechend zu finanzieren. Deshalb müssten alle staatlich finanzierten Bibliotheken allen gleichermaßen zugänglich gemacht werden (meist ist man ja nur geduldeter "Nebennutzer"). Das ist für eine bildungsfreundliche, offene Gesellschaft unabdingbar. Dazu gehören gemeinsame Nachweismittel, Öffnung kostenpflichtiger Ressourcen für alle, einheitliche Bibliotheksausweise, institutionelle Zusammenarbeit, Formulierung gemeinsamer Ansprüche an die zentralen Dienstleister (Verbünde, DNB) etc.

... sonst bleibt für die nichtakademischen Schichten, bzw. die nicht institutionell gebundenen Teile des Publikums, also die weit überwiegende Mehrheit unserer Gesellschaft, nur die ÖB als bibliothekarische Hauptschule. Die Bibliotheken können zukünftig eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen Bildungs- und Informationsprozess spielen, wenn sie Reichhaltigkeit bieten. Aber das ist nicht möglich, wenn ÖB und WB weiterhin als zwei getrennte Welten betrachtet werden. Im übrigen erzwingt schon das Internet eine solche Entwicklung, wenn Bibliotheken in Zukunft ihre Vorteile ausspielen wollen.

viele Grüße
Peter Delin

Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Videolektorat
http://www.zlb.de/wissensgebiete/kunst_buehne_medien/videos
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http://buecherei.netbib.de/coma/Filmliteratur
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Frau Haase schrieb:
Und wer hätte daran ein Interesse? Oder andersrum: wer hat ein Interesse daran, dass Bildung immer noch und immer wieder mit allein mit individueller Intelligenz und Begabung und elterlicher Förderung verbunden bleibt?

Liebe Frau Da Rin, kennen Sie eigentlich das deutsche Schulsystem und die alltägliche Arbeit deutscher Lehrer? Vielleicht sind ein paar Exkusrionen an Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen eine empfehlenswerte Ergänzung zur Bourdieu-Lektüre. Vielleicht verspüren Sie danach Lust, Karl Marx und Manfred Spitzer zu lesen!
Soviel aus der Unterschicht - herzliche Grüße
Jana Haase


Sandra Da Rin, Inst. f. Emp. Wirtschaftsf. schrieb:
Sehr geehrter Herr Steinhauer

Ich bin mit Vielem einverstanden, was Sie schreiben, insbesondere
bzgl. der Verflachung des Wissens. Wenn Sie jedoch von "Unterschichten-TV" und "promovierten Proleten" sprechen, muss ich Ihnen mit dem Bildungssoziologen Pierre entgegen halten, dass Sie einen leider erschreckend weit verbreiteten "Klassenrassismus" (P. Bourdieu. Die feinen Unterschiede. F/M: Suhrkamp 1982) vertreten. Gerade Jura-Studierende stammen oftmals aus bildungsnahen Familien, wie etliche Studien aus der Hochschulforschung belegen. So zerfällt das Bild des promovierten Proleten, der lieber Porsche fährt als sich für Gerechtigkeitsfragen zu interessieren.

Zudem ist die Aussage, "Neugier ist eine unvertretbare Handlung. Sie ist entweder da oder nicht. Man kann sie stimulieren, aber nicht erzeugen" schlichtweg falsch. Neugier hat sehr viel mit den Lebensumständen zu tun, in der jemand aufwächst. Und diese Lebensumstände werden sehr stark von gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt, durch die Lebenschancen ungleich (ungerecht) verteilt werden. Die Verantwortung dafür kann nicht einfach den Eltern, womöglich noch den Proleten-Eltern zugeschoben werden. Neugier hat mit Lebenslust und Lebensgestaltungslust zu tun. Diese Lust wiederum ist nur möglich, wenn man überhaupt das Gefühl hat, man kann etwas gestalten im (eigenen) Leben, man hat Einflussmöglichkeiten. Und dieses Gefühl, Einfluss, einen Gestaltungsspielraum zu haben, hängt mit der sozialen Herkunft zusammen (vgl. z.B. René Levy et al. Alle gleich? Soziale Schichtung, Wahrnehmung und Verhalten. Zürich: Seismo Verlag 1998).

Diese Zusammenhänge sind wenig bekannt bzw. die gewohnten Denk- und Wahrnehmungmuster wehren sich dagegen, solche Zusammenhänge überhaupt erkennen zu wollen. Denn dann müssten wir unsere Vorstellungen gerade von Bildung (was ist das und wer hat sie?) ziemlich revidieren bzw. den Zugang zu und Umgang mit Wissen und Bildung mit gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen verknüpfen. Und wer hätte daran ein Interesse? Oder andersrum: wer hat ein Interesse daran, dass Bildung immer noch und immer wieder mit allein mit individueller Intelligenz und Begabung und elterlicher Förderung verbunden bleibt?

Ich empfehle Ihnen die Lektüre Bourdieus, da sie sehr erhellend ist hinsichtlich all dieser Zusammenhänge.

Mit freundlichen Grüssen
Sandra Da Rin


From: Eric Steinhauer<eric.steinhauer@xxxxxxxxx>
Subject: Re: [InetBib] Wikipedia, Google und die Studierenden 2015+

... das Unterschichten-TV.

..."promovierten Proleten"

...Dieses Interesse speist sich letztlich aus ganz intrinsischen Motiven und
Leidenschaften, vor allem aus Neugier. Und diese Neugier ist eine
unvertretbare Handlung. Sie ist entweder da oder nicht. Man kann sie
stimulieren, aber nicht erzeugen.


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