[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Re: [InetBib] Neu im Bibliotheksportal: "Bibliothekswert-Rechner"



Sehr geehrter Herr Schleiwies,

ich kann und will Ihnen in weiten Bereichen nicht widersprechen,
und bin in dem was ich schrieb zu wenig auf die Öffentlichen Bibliotheken eingegangen,
um thematisch nicht auszuufern.
Bei den ÖBs und der Bildung ist es etwas komplexer als bei den WBs und der Wissenschaft. Vermutlich sind die Einsparungen eines Staates durch gute ÖBs noch höher als bei WBs. Es ist nur schwerer kalkulierbar, weil man schon bei Kleinkindern und deren Folgekosten ansetzen muss.

Um junge Menschen zum lesen zu bringen, würde ich auch nicht gerade mit dem Faust, beginnen, um bibliotheksattraktiv zu wirken. Im Gegenteil, ich bin auch der Meinung, das Bibliotheken "Schund" nur erkennbar machen können, wenn sie ihn mit anbieten, und der lockt bekanntlich auch. Man muss Schund gelesen halben, um ihn beurteilen zu können. Nur zu viele Leser kommen über den Schund gar nicht erst hinaus, was man an den Absatzzahlen bestimmter Bücher, Zeitungen und
Zeitschriften unschwer ablesen kann.

Ich habe als jugendlicher "Mein Kampf" gelesen, darum kann ich es mir bis heute leisten zu sagen, was für ein Unsinn dort drin steht. Das ist nachweisbarer Schund, wenn man als "Führer" behauptet, man müsse alle Fehler und Rückschläge einer Politik, auf das Weltjudentum schieben, damit ein dummes Volk nicht an dieser Führerschaft zweifelt. Das ist schon starker Tobak, ein Volk so offenkundig und gezielt belügen zu wollen. Und ich bin bis heute der Meinung, dass das mehr Menschen hätten wirklich lesen sollen. Daraus aber zu schließen, dass sich Schund nicht als solcher erkennen lässt,
ist ein verbreitetes Missveständnis.

Bücher müssen nach Ranganathan nicht nur ihre Leser finden, es kommt auch darauf an, dass sie das
zur richtigen Zeit tun. Ich denke da stimmen wir völlig überein.
Auch darin, dass wir als Bibliotekare nicht den Lesern vorschreiben sollen, was sie lesen. Aber wie viele Menschen lesen einfach nur den Trash, den ihnen irgend eine Reklame aufdrängt. Nicht zuletzt die einiger Verlage, die so tun als wäre so mancher Sex and Crime-Nonsens auch noch
Allgemeinbildung, weil man Bestseller gelesen haben muss.

Man kann mit Büchern, Filmen, Vidoespielen oder Fernsehsendungen bekanntlich unglaublich viele Menschen ruinieren, *Kuhlen nennt es bei seiner nächsten Tagung "Information Droge ..." aber man kann ihnen eben auch Bildungschancen geben. Diese Kosten (positv bzw. negativ) sind weitaus höher als die Einsparung eine DVD zu kaufen bzw. auszuleihen.

Diese Rechnung interessiert die Verlage, für die entscheidend ist, eine DVD so billig zu verkaufen,
dass sich die Ausleihe aus einer Bibliothek nicht lohnt.

Und mir geht es nur um die Gefahr einer Irreführung, durch eine pseudowissenschaftliche Kalkulation. Das volkswirtschaftliche Potential einer Bibliothek liegt um zehnerpotenzen höher,
als das was ein "Bibliotheksrechner" ermittelt.

Die King Research Group hat vor vielen Jahren in den USA einen Wissenschaftsverlust von 5% abgeschätzt, wenn man dort die Biliotheken schließen würde. Das ist für eine Wissenschaftsgesellschaft existenzbedrohend, weil Wissenschaft ein internationaler Wettewerb ist.

Der Geschmack an guten Büchern nimmt direkt proportional mit unserem Wissen zu. Diesem wachsenden Anspruch gerecht zu werden ist der große Vorzug einer guten Bibliothek.


MfG


W. Umstätter




On Aug 1, 2008, at 3:58 PM, Gerald Schleiwies wrote:

Sehr geehrter Herr Umstaetter,

gerne nicke ich zustimmend über Ihre Beiträge, doch dieses Mal möchte ich aus der Praxis an einigen Stellen widersprechen.

Es gibt im Bereich der Belletristik sicher nicht mehr die Frage "Was ist Schund?", sondern "Welche Medien für die anvisierten und festgelegten Zielgruppen?"

Ich bekomme jede Leseförderung kaputt, wenn ich mit den entsprechenden guten Büchern in die Schulklassen gehe und die Bestände vor Ort entsprechend bestücke. "Was haben wir nur falsch gemacht?" hieß es mal von einem Verleger, als bekannt wurde, er bekäme für ein Buch aus seinem Verlag den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Zudem erinnere ich mich noch gut an eine Diskussion hier im Haus: "Sollen wir die günstigen Ausgaben von Hans Ernst wirklich bestellen?" Ein klarer Fall, das müssen wir sogar, denn eine Zielgruppe unserer Bibliothek wird das Lesen. Nun glöckelt das Dirndl und es juchzen die Lederhosen vom Schmalzsee im Regal - wenn die Werke denn mal da sind. Einen erzieherischen Anspruch an die Zielgruppe stellt sich nicht mehr, der ärmelschoner tragende Beamte hinter dem Verbuchungstresen ist Geschichte. Für die Zielgruppe sind wir wertvoll, weil wir etwas für Sie haben; und nur das zählt.

Natürlich freue ich mich über knifflige anspruchsvolle Rechercheanfragen auf einem gewissen Niveau, meist ist dies aber wiederum eine andere Zielgruppe. Aber auch für diese sind wir wertvoll, weil wir einen gewissen Service anbieten. Beide aber benutzen die Bibliothek und ihre (Zielgruppen)Bestände. Eine Schnittmenge wird es da wohl kaum geben.

Wenn die Bibliotheksarbeit aber reduziert wird auf einen Medienausleihrechner aus Kundensicht sehe ich mich in einer Defensive. Dann reicht ja doch der automatische RFID gestützte Medienrückgabekasten mit Sortierer und die Selbstverbuchung bei der Ausleihe, während das Einräumen von 1 Euro Kräften erledigt wird. Beratung und Service für alle Lebenslagen wird nicht benötigt und ein freundliches Lächeln und ein kleiner Plausch kann ja endlich wieder in die nun wieder zu verrauchenden Eckkneipentheke verschoben werden, die Verbuchungstheke wurde ja bereits abgebaut, der Cybrarian ist nur über den Monitor erreichbar.

Zudem ist die Belletristik ja ein unnötiges Zeittotschlagen. Wie Fernsehen, Computerspiele und Mailinglisten auch. Wenn Lieschen Müller sich bei uns also den Hans Ernst "Schund" ausleiht um Ihre Rentnerzeit totzuschlagen anstatt als Ehrenamtliche die Bücher ins Bibliotheksregal zu räumen - dann ist das Ihre Sache! Und wer sich in der Welt von Heimatromanen, Hr. Silbereisen und den News aus dem Goldenen Blatt bewegt, der wird nicht zufällig Umberto Ecos "Wie man eine öffentliche Bibliothek organisiert und andere Anekdoten" mitnehmen. Zudem empfindet Lieschen Müller Ihre mitgenommene Literatur nicht als Schund sondern als herrlichen Zeitvertreib und Unterhaltung.

Bibliotheken sind heute ein passiver Anbieter von Medien, zeitweise mit einer recht aktiven Neukundenwerbungsmaschinerie, wie Sommerleseclubs und Bildungspartnerschaften. Einen pädagogischen oder gar einen weltverbessernden gesellschaftlichen Auftrag sehe ich nicht und will ihn auch nicht sehen - sollen wir etwa von uns aus Medien aus unseren Beständen zensieren und verbieten..........

Qualität ist, wenn die Zielgruppen etwas für sich bei uns finden - und das müssen nicht nur Medien sein! Zudem wachsen geistige Philosophentürme meist nicht in Innenstädten, da muss aufgrund der Behindertengerechtigkeit alles schön niedrigschwellig sein.

Goethes unschätzbare Zinsen sehen in Bibliotheken aus wie in der WIrtschaft. Ich kann ökologisch und ethisch korrekt bei der Umweltbank meine Gewinne einstreichen, ich kann auch durch das Haifischbecken des shareholder Value schwimmen. Gewinn bleibt Gewinn. Bei den Angeboten der öffentlichen Bibliotheken ist es nicht anders.

Auf gehts ins Feuchtgebiet
(damit meine ich nun aber dieses eklige schwülwarme Wetter in der Kölner Bucht, nicht das Buch auf dem Nachttisch!)

Gruß

Gerald Schleiwies
Haupstraße 33
50226 Frechen

schleiwies@xxxxxx


Am 01.08.2008 um 14:25 schrieb Walther Umstaetter:

Die Frage nach dem Wert von Bibliotheken im Zusammenhang von
Kosten-Nutzen und -Effektivität ist schon widerholt und auch,
wie ich meine, von der King Research Group besser beantwortet worden.
Eigentlich wäre es dringend notwendig diese Frage ernst, fundiert
und besser als bisher zu beantworten. Dass Bibliotheken "unschätzbare" Zinsen tragen wusste schon Goethe. Bibliotheken müssten heute dazu aber schon noch etwas
genaueres sagen können.

Für höchst gefährlich halte ich aber solche weit zu niedrig angesetzten Berechnungen, wie sie sich aus dem genannten Beispiel ergeben. Sie sind irreführend und können von denen gegen das Bbliotheswesen ins Feld geführt werden, die davon
zu wenig verstehen.

Die größten Ersparnisse bei der Kosten-Effektivität in einer Bibliothek ergeben sich daraus, wie viel Zeit man spart, all das nicht zu lesen, zu studieren und zu durchsuchen, was man sich in einer Synopse ersparen kann, weil eine Bibliothek das hat, was man wirklich braucht (Ranganathan: Jedem Leser sein Buch.)

So manches Buch und so mancher Aufsatz, nicht zur rechten Zeit gefunden und gelesen, hat schon so manches Leben gekostet. (Kosten-Nutzen) Solchen Fragen ging man bei der Einführung
von MEDLINE vor dreißig Jahren schon nach.

Über die Frage, wie viel Zeit Menschen totschlagen, weil sie Bücher lesen um belesen zu wirken, auch im Sinne des "Wir amüsieren uns zu Tode" (N. Postmann), müsste man in diesem Zusammenhang auch noch mal nachdenken. Am Beginn des Öffentlichen Bibliothekswesens hat dieser Kampf gegen den "Schund" mal eine große Rolle gespielt. Heute freuen sich viel Bibliothekare/innen schon, wenn überhaupt gelesen wird, als wäre die Qualität gleichgültig, weil wir durch unsere Geschichte bedingt, uns nicht mehr trauen zu sagen, was ein gutes Buch ist. Zu lange war es in Deutschland selbst hoch ideologiebelasteter "Schund", der nicht nur zu viel Geld, sondern auch viele Menschenleben gekostet hat. Daraus sollte man aber nicht schließen es gäbe keine guten und schlechten Bücher.

Bei der Ausleihe von Schund hat man also kein Geld gespart, sondern verloren, wenn man ihn für wetrvoll hält. Man spart aber durchaus, wenn man die Chance hat, in einer Bibliothek zu erkennen, was Schund ist, ohne ihn
auch noch bezahlt zu aben. Das ist Volkswirtschtschaft ;-)



MfG


W. Umstätter




On Aug 1, 2008, at 11:42 AM, Nina Frank wrote:


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

eigentlich ist der Wert einer Bibliothek ja unschätzbar.

Trotzdem ist die Idee reizvoll, den Nutzen eines Bibliotheksbesuchs ganz konkret und schnell anschaulich zu machen. US-amerikanische Bibliotheken
haben dafür eine interessante Möglichkeit entwickelt: den
Bibliothekswert-Rechner. Er berechnet einen - natürlich nur materiellen - Wert für die Bibliotheksleistungen, die eine Nutzerin oder ein Nutzer beim
letzten Bibliotheksbesuch in Anspruch genommen hat.

Allzu betriebswirtschaftlich-ernst sollte man diese Methode sicher nicht nehmen - aber vielleicht kann sie auch für manch hiesige Bibliothek ein ansprechender und "interaktiver" Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit werden.

Der Bibliotheksrechner ist daher nun, angepasst an die Gegebenheiten in Deutschland, auch für deutsche Bibliotheken und ihre Leser/innen nutzbar. In spielerischer Form können diese einen Eindruck davon gewinnen, welchen Wert
die ganz alltägliche Nutzung ihrer Bibliothek für sie erzeugt.

Den Rechner können interessierte Bibliotheken gern in ihre eigene Webseite
einfügen.
Wir freuen uns auch über Ihr Feedback zum "Bibliotheksrechner". Zu finden
ist er unter:
http://www.bibliotheksportal.de/hauptmenue/service/kalkulator/

Mit freundlichen Grüßen,


Nina Frank
Deutscher Bibliotheksverband e.V. (dbv)
Kompetenznetzwerk für Bibliotheken
Web-Redaktion für das KNB-Bibliotheksportal

Telefon: 030/39 00 14 78
Telefax: 030/39 00 14 84
E-Mail: frank@xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
http://www.bibliotheksportal.de/










Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.