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Re: [InetBib] Professor Reuß, das Urheberrecht und 1995



Lieber Herr Steinhauer,

jetzt unterschreiten Sie Ihr Niveau aber erheblich. Sachlich,   
theoretisch, mag das ja alles richtig sein. Aber: ist es Ihre und  
unsere Zeit wert? Ist der Sommer  so langweilig, dass Ihnen nichts  
besseres einfällt als den Beckmesser von Herrn Reuß zu spielen?

Ja, bei jeder  technischen Revolution gibt es Warner, Menschen die  
den Untergang des Bestehenden fürchten. Asche aufs Haupt dieser Warner!

Aber gilt nicht auch: bei jeder Revolution gibt es Propheten des  
Umsturzes, die das jüngste Gericht ankündigen, die komplette  
Beseitigung alles Althergebrachten?

Und beim Rotwein, wenn Sie alleine sind und beide Augen ein bisschen  
zudrücken, dann geben Sie vielleicht zu, dass weder die Warner noch  
die Propheten, weder des Untergangs noch des Umsturzes je Recht  
behalten haben. Es kommt immer  etwas Neues dazu, es fällt immer  
etwas  Altes weg. Aber es bleibt auch immer sehr viel vom Alten  
bestehen. So pragmatisch und langweilig geht Fortschritt vor sich.

Natürlich, unter den Propheten des Umsturzes wird der Warner  
gesteinigt. Und umgekehrt. Und das, obwohl doch beide wissen, dass  
das alles Käse ist.

Wenn man sich hier aber fröhlich den Mund über Herrn Reuß Bemerkung  
zu PDF und XML zerreißt, wenn man ihm hier ein Narrenkäpplein  
überzieht und dann fröhlich schenkelklatschend und jauchzend um ihn  
herumhüpft, dann vergisst man hier leider, dass das Komische an der  
Szene nicht die Person in der Mitte ist, sondern der Narrentanz, der  
drum herum aufgeführt wird.

Mit dem Wandel bei den Medien, beim Mediennutzungsverhalten, beim  
Schreiben, beim Kommunizieren, bei der Speicherung, bei der  
Datenerschließung usw., mit diesem Wandel haben wir doch ein  
ungeheuer komplexes Geschehen vor uns. Und jeder bewirbt sich  
persönlich und eindringlich um eine Narrenkappe, wenn er  behauptet,  
dass er genau weiß, was passieren wird. Insoweit sind die Gedanken  
von Herrn Reuß zur Bedeutung der gedruckten Werke für bestimmte  
Wissenschaftsbereiche durchaus nachdenkenswert. Genau  so wie die  
Gedanken anderer zu Open Access. Oder zu Hybridpublikationen. Oder  
zur Privatkopie. Oder zur Freiheit des Wissenschaftlers. Oder zur  
Bedeutung der Bibliothek.

Ich finde es genau so nachdenkenswert, was das eigentlich bedeutet,  
wenn vollkommen unwidersprochen seit einiger Zeit das Diktum  
herrscht, dass die  einzige Währung der Wissenschaft die Sichtbarkeit  
oder die Verbreitung ist.

Herzliche Grüße
Matthias Ulmer







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Am 01.09.2009 um 13:23 schrieb Eric Steinhauer:

Liebe Liste,

die Äußerungen von Professor Reuß finde ich nicht weiter  
belangvoll. Es war schon immer so, dass bei Einführung neuer Medien  
einer das altbekannte Lied vom Untergang des Abendlandes singen muss.

Nun, diese Rolle spielt derzeit Professor Reuß. Und er spielt sie  
ganz comme il faut.

Es wäre übrigens ein sehr spannendes Unterfangen, die  
medienkritischen Äußerungen bei der Einführung von Buchdruck,  
Fotographie, Telegraphie, Telefon, Radio und Fernsehen einmal zu  
vergleichen.

Ich wage die These: Sie gleichen sich strukturell wie ein Ei dem  
andern.

Professor Reuß selbst sollte freilich darauf achten, im Eifer des  
Gefechts die eigene Praxis nicht zu übersehen. Wer das hohe Lied  
der Urheberrechts singt und Menschen, die fremde Geisteswerke zur  
Beförderung des eigenen Ruhms ausnutzen, als Eunuchen diffamiert,  
muss sich selbst an diesen Maßstäben messen lassen.

Als Editionsphilologe ist Reuß vor allem durch seine Kafka-Ausgabe  
bekannt und berühmt geworden. Ist es ein Zufall, dass diese  
wichtige Edition im Jahre 1995 ihren Anfang nahm, just in dem Jahr,  
als Kafkas Werke gemeinfrei wurden ... ?

Instruktiv ist hier, was Professor Reuß damals in der taz äußerte:
"Wir hatten ganz andere Probleme und bewegten uns in juristischen  
Grauzonen. Bis zum 1. Dezember zum Beispiel war es strittig, ob man  
im Falle der Handschrift von Kafkas »Process« nun die  
Abdruckgenehmigung in einer öffentlichen Bibliothek, im Marbacher  
Literaturarchiv, einholt oder beim S. Fischer Verlag, wo die  
Urheberrechte lagen."
http://www.textkritik.de/rezensionen/kafka/einl_05.htm

Und hier gibt es Klartext:
"70 Jahre nach dem Tod Franz Kafkas werden die Rechte an seinem  
Werk frei. Prompt kündigt der kleine Frankfurter Stroemfeld-Verlag  
eine aufwendige Kafka-Edition an – Kampfansage gegen den bisherigen  
Inhaber der Rechte, S. Fischer, dessen Kafka-Ausgaben bis heute den  
Markt beherrschen."
Der Spiegel 1995, 1/2.

"Seit Sonntag darf jeder Kafka drucken, am Montag hat Wolff  
zusammen mit den Herausgebern Roland Reuß und Peter Staengle den  
Einleitungsband der neuen historisch-kritischen Franz-Kafka-Ausgabe  
(FKA) vorgestellt. "
Süddeutsche Zeitung v. 4.1.1995

"Es kam, wie es kommen musste: Am ersten Tag, an dem nach deutschem  
Urheberrecht die Schutzfrist für die Werke Franz Kafkas abgelaufen  
war, kündigte der Frankfurter Verlag Stroemfeld/Roter Stern eine  
historisch-kritische Kafka-Ausgabe an, die sämtliche Handschriften,  
Drucke und Typoskripte umfassen soll."
NZZ 6.1.1995

"Der Einführungsband, konspirativ zum Druck befördert, wurde noch  
fast in der Silvesternacht den Redaktionen überreicht. Denn erst  
seit dem 1. Januar 1995, siebzig Jahre nach dem Tod ihres Urhebers,  
sind die Werke Kafkas frei und der Verfügungsgewalt des S. Fischer  
Verlags zu Frankfurt in entscheidenden Partien entzogen."
FAZ vom 10.1.1995

Quellen hier: http://www.textkritik.de/rezensionen/rezkafka.htm

Bei einem Verfechter des Urheberrechts wie Professor Reuß darf man  
sicher davon ausgehen, dass die Autoren der Zeitungsartikel und  
Rezensionen bzw. deren Verleger ihr Einverständnis zur frei  
zugänglichen Publikation ihrer Texte auf der Hompage des Instituts  
für Textkritik gegeben haben.

Wie sonst sollte man auch den Hinweis "Copyright by Institut für  
Textkritik, Heidelberg © 2005" bei dem Artikel "Vor der Schrift :  
Kafka, seine Editoren und die Germanisten" von Frank Schirrmacher  
aus der FAZ vom 10. 1. 1995 verstehen?

Sauberes Rechtemanagement ist bei einem erklärten Freund eines  
starken Urheberrechts selbstverständlich. Es wäre doch ein  
unerträglicher Angriff auf die Autorenpersönlichkeit von Frank  
Schirrmacher, wenn dessen Texte einfach so ungefragt im Internet  
von jedermann gelesen, kopiert und ausgedruckt werden könnten!

Denn, wie heißt es im Heidelberger Appell: "Es muß auch künftig der  
Entscheidung von Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern,  
kurz: allen Kreativen freigestellt bleiben, ob und wo ihre Werke  
veröffentlicht werden sollen."

Oder um es mit Professor Reuß selbst zu sagen: "Es gibt eine  
essentielle,
vom Gesetz ausdrücklich geschützte Verantwortung des Autors für  
sein Werk, und die erstreckt sich eben auch auf die sorgfältige  
Wahl des Publikationsorts."
http://www.textkritik.de/digitalia/rr_interview_forschung_lehre.pdf

Und wenn ein Frank Schirrmacher die Homepage des Instituts für  
Textkritik als Publikationsort - sorgfältig! - auswählt, dann adelt  
das schon!! Vielleicht musste man Frank Schirrmacher aber auch gar  
nicht fragen. Hat er doch den Heidelberger Appell - bis heute  
jedenfalls - nicht unterschrieben ...

Eric Steinhauer

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