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Re: [InetBib] Barrierefreiheit oder ein Nachtrag zum "Blue Beanie Day"



Herr Wilmsen (u.a),

ich weiß nicht, ob ich verstehe, was Sie unten mit Plattform meinen,
aber hier kommt eine länglich Einlassung, die vielleicht erklären
kann, worum es mir geht.

Diese Einlassung geht auch an eine Kollegin, die eine ähnliche Frage stellte.

Und das alles ist ja nun sicherlich völlig off-topic und eher thema
für ein Blog, aber ich habe eben keines.

Erlauben Sie mir, deutlich zu werden: ich empfinde Aktionen dieser Art
als peinlich und erniedrigend. Es ist mir unvorstellbar, was
irgendjemanden bewegen könnte (ausser extremem Gutmenschentum), an
sowas teilzunehmen und sich dermaßen peinlich zur Schau zu stellen;
sich nicht zu entblöden, sich selber oder sein Bild mit blauen
Mützchen, roten Nasen etc. zu entstellen, egal, wie gut der Zweck ist.

Zeigt das nicht einen schweren Mangel an Selbstachtung? Die man doch
zum Kämpfen braucht?

Solche Aktionen gehen mir gegen meine Würde, und ich glaube nicht,
dass das Aufgeben meiner eigenen Würde bedeutet, dass jemand anders
davon mehr hat oder sonst profitiert. Im Gegenteil.

Es ist mir weiter unvorstellbar, dass solche Form von
Selbstdarstellung, Protest oder Solidaritätserklärung von denen, die
es angehen sollte, wirklich ernst genommen wird. Ich kann es nicht
wirklich ernst nehme. Und vollkommen entgeht mir, was daran lustig
oder humorig sein soll. Weiter ich frage mich auch, in wie weit es
überhaupt ernst genommen werden will - so, wie es mit Kasperle-Humor
daherkommen will, auch wenn mir der entgeht.

Mir ist klar, dass es einst eine Hofnarren-Tradition gab, die
ebendiesen erlaubte, Dinge zu sagen und vielleicht auch zu erreichen,
die anderen Petenten verwehrt waren oder doch manchmal
lebensgefährlich - aber sind wir diesen feudalistischen Zeiten nicht
eigentlich entwachsen, und zwar mehr als nur nominell?

Oder anders: in wie weit ist dieser Humor getragen von Angst?

Davon bin auch ich nicht frei: Wann und wo und in welcher Form sollte,
möchte ich meine Solidarität bekennen? Dass solche Dinge wie
Barrierefreiheit leider immer noch nicht selbstverständlich sind, ist
bedauerlich und ebenso bedauerlicher Weise immer noch auch oft eine
Geldfrage, aber Gebiete für Solidarität sehe ich woanders.

Es mag diese Art Aktion ja dennoch ihre Berechtigung haben, und ich
völlig falsch liegen, doch ebenso habe ich meine Bedenken und gönne
mir diese - man möge mich also da bitte herauslassen. Und wenn diese
Bedenken so geringelnatzt werden, wie es hier geschehen ist, dann
fühle ich mich meinerseits diskriminiert oder sowas in der Art,
zumindest aber etwas gönnerhaft abgefertigt.

Das alles binde ich normalerweise niemandem auf die Nase, der oder die
an solchen Aktionen beteiligt ist, (immerhin wird etwas gegen einen
Mißstand getan) - solange nicht versucht wird, mich in der Hinsicht
unter Druck zu setzten, und ich würde es Herrn Schober normalerweise
auch so nicht mitteilen. Die Ziele sind ja an sich gut, nur scheinen
mir die Mittel mehr als fragwürdig, als unangenehm und wenig geeignet.

Sollte nicht der Weg das Ziel beinhalten? Muss er das nicht sogar, um
sich je ihm auch nur anzunähern?

Ist denn das Ziel nicht schön?

Ich kann nicht nachvollziehen, warum das gleich Diskriminierung ist

Nach meiner Erinnerung ist es die Empfindung der Diskriminierten,
diskriminiert zu werden, die dafür entscheidend ist, ob etwas als
Diskriminierung angesehen wird - oder irre ich mich?

Natürlich ist dies nur eine Winzigkeit - aber so haben ja wohl auch
andere Themen angefangen und zu mehr Bewußtheit geführt.
Würden Sie das so auch fragen, wenn ich, sagen wir, schwerhörig oder
blind wäre oder depressiv?

In jedem Fall könnte man solche Äußerung als gönnerhaft oder
bevormundend (paternalistisch) empfinden.

Ich habe sehr versucht, mich zurückzuhalten; empfand allerdings die
fordernde Form, in der Herr Schober um Beteiligung ersucht, als
durchaus etwas aufdringlich und also nicht wirklich werbend, und die
Aktion als in der Tat auch diskriminerend: zum einen gegen jeden guten
Geschmack - und zum anderen gegen eben alle jene, die mit sog. Social
Networks usw. aus diesen oder jenen guten, in jedem Fall als gültig zu
akzeptierenden, Gründen erstmal nicht viel am Hut haben.

Sind diese Gründe weniger wert, weil sie mit ("technischen") Barrieren
nichts zu tun haben und evtl. einen freiwilligen Verzicht darstellen
auf etwas, das die Barriere-Bekämpfer sich ersehnen oder allen zur
Verfügung stellen, womöglich sogar aufzwingen wollen?
Natürlich ist diese Art der Diskriminierung aufgrund der Verweigerung
der Beteiligung an bestimmen Auswüchsen des Internets auch nicht
entfernt so extrem wie Herrn Grafs wiederkehrende Pöbeleien - dennoch…

Das alles heißt sicherlich nicht, dass es nicht allen freistehen und
möglich sein sollte, am Internet wie an solchen Aktionen in jeder
möglichen Weise zu teilzunehmen - aber es ist ja vielleicht
verständlich, dass und wenn Leute, die alldem etwas kritisch
gegenüberstehen, sich nicht an einer solchen, keinen der Hintergründe
berücksichtigenden Aktion beteiligen.

Warum sollte man für etwas kämpfen, wenn man mit der Form des
Vorgehens nicht übereinstimmt oder auf das man selber wenig Wert legt?
Da gibt es sicher wichtigere Ziele. Wenn das Bestehen des Netzes
bedroht wäre und Zensur weiter um sich greift, das wäre etwas anderes:
denn dann wäre auch die Barrierefreiheit in ihm kaum mehr möglich. Ein
barrierefreies Netz kann nicht ohne Netz existieren. Man könnte sagen,
dass von den Barrieren, die dort aufgebaut werden, mit solchen
Aktionen eher abgelenkt wird. Und das Netz wird inzwischen, wie so
einige "zivilisatorische Errungenschaften", mit erstaunlicher
Selbstverständlichkeit als eben eine solche betrachtet….

Nochmal: sicher sind die Ziele der Aktion durchaus ehrenwert, auch
wenn ich die gewählten Mittel für ebenso unschön wie ungeeignet halte.
Ist das so wirklich sinnvoll? Letztlich kann ich das nicht wissen,
vielleicht wird es ja irgendeinen Erfolg haben; und der Zweck heiligt
bekanntlich die Mittel - ich möchte niemandem reinreden, der oder die
sich so unbedingt zum Affen machen will. Nur: ich mache da nicht mit.

Ich fühle mich von bunten Mützen und Nasen ästhetisch belästigt oder
auf der äthetischen Ebene angegriffen, ähnlich wie vom
Weihnachtsrummel; vom Level der Geschmacklosigkeit und der sozialen
Pressurisierung her sind für mich solche Aktionen, völlig egal, wie
gut sie gemeint sein mögen, ein Grausen und nur minimal von Big
Brother oder dem Dschungelcamp oder einer Schunkelveranstaltung auf
einem Volksfest entfernt. Oder dem Tragen gewisser Armbinden oder
Parteimitgliedschaften. Oder auch von den Auszeichnungen als
"Mitarbeiter der Woche" in manchen Ami-Konzernen (schauder!).
Dies verursacht mir Ekel, manchmal sogar Angst. Ist mitunter gruselig,
die Moderne.

Kann wirklich kollektive, massenhafte Peinlichkeit die Welt verbessern?
Verändern sicherlich, aber zu was??

Der ästhetische Einwand wird von Befürwortern solcher Aktionen aber
grundsätzlich mißachtet und lächerlich gemacht - und das, meine ich,
sind beides Zeichen faktischer Diskriminierung, nicht wahr? Die
Nichtakzeptanz des Anderen, Andersdenkenden?
Das, was man sicherlich Diskriminierung nennen könnte, wenn man
wollte, rührt hier u.a. daher, dass von den Machern der Aktion sich
nicht die Mühe gemacht wurde, zu bedenken, wie man auch etwas
ästhetisch sensiblere Naturen einbeziehen kann; Menschen, die nicht
den Humor-Holzhammer brauchen, um Nicht-Diskriminierung,
Barrierefreiheit und ähnliches auch als Idee zu verstehen und für gut
oder sogar selbstverständlich zu befinden, und denen kollektive
Selbstoffenbarung und Zugehörigkeitsbekundungen nur schwer erträglich
sind. Dazu würde auch sinnvolle, intelligente Wortwahl gehören
anstellen von Hohl- und Catchphrasen.

Wenn ich von Diskriminierung betroffen wäre und mit solchen Aktionen
davon befreit werden sollte (als wenn das je klappte!), würde ich,
behaupte ich mal, mir das verbitten. Obwohl ja vielleicht der Zweck
die Mittel heiligt.

Sie brauchen dies alles nicht zu glauben oder gut zu finden - es wäre
aber nett und erleichternd, wenn Sie Ihre Toleranz bemühen würden,
meine Meinung als solche einfach bestehen zu lassen und zu
akzeptieren, dass ich mich an solch einem Affentanz und Augenwischerei
wahrscheinlich vielleicht gerade mal dann beteiligen würden, wenn es
um mein Leben ginge. Ich stelle mir gerne vor, dass ich gerade dann
nein zu sagen imstande wäre zum Kollektiv. Das vielleicht klingt
übertrieben, aber ich versuche, aus der Geschichte zu lernen, und bin
es gewohnt, getreten zu werden.

Vielleicht verstehen Sie ja, worum es mir geht. Einiges von dem, was
ich hier schreibe, wollte ich schon immer mal loswerden - danke fürs
Lesen!

Um es nochmal zu wiederholen: so sind die Leute verschieden.

Von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen -

Silke Ecks.

---------------

2010/12/2 Andreas Wilmsen <ortarion@xxxxxx>:
Herr Schober,

ich denke bei Teilnahme bedarf es nicht einer extra Mitteilung. Das ist wie 
beim spenden: Schweigen ist Gold. Alles andere ist auf 
Aufmerksamkeitshascherei. Das Sie natürlich gerne Feedback hätten ist 
verständlich.
Ich habe nicht mitgemacht, finde die Aktion aber gut (ein Schritt in die 
richtige Richtung, und gegen "Social Networks" hab ich nichts [wenn es auch 
kritisch zu betrachten ist], ich bin vielmehr für eine stärkere Nutzung bzw. 
Nutzbarmachung). Womit ich zur Aussage von Frau Ecks komme:

Für mich ist diese Art Angang, wie auch der Red-Nose-Day (immer diese
Anglizismen!) oder Lachtherapie, eher ein Hindernis (genau, eine
Barriere!) bei der Teilnahme, oder - habe, wie es wohl heute heißt im
Kirchentagsdeutsch, und etwas, das mich persönlich zu wie auch immer
gut gemeinten oder sogar tatsächlich guten Aktionen auf Abstand hält.

Warum empfinden Sie solche Aktionen als "behindernd", bzw. die Plattform als 
Barriere?

Grüße aus Köln,
Andreas Wilmsen

-------- Original-Nachricht --------
Datum: Thu, 2 Dec 2010 12:51:30 +0100
Von: Silke Ecks <furious.sun@xxxxxxxxx>
An: Internet in Bibliotheken <inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx>
Betreff: Re: [InetBib] Barrierefreiheit oder ein Nachtrag zum "Blue Beanie   
 Day"

Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen (habe wohl gerade meine ehrliche
Phase) , dass, neben meinen andern bereits vorgetragenen und übrigens
durchaus auch ernst gemeinten Einwänden, diese Art "Humor" nicht
meiner ist. Wie übrigens meist der von Herrn Ringelnatz, sorry. Ich
bin da mehr der Morgenstern-Typ.

Ich werde mich absehbar nicht auf einer Social-Network-Site mit meinem
richtigen Namen anmelden - und in jedem Falle nicht, nur um dort ein
wie auch immer gestaltetes Profilfoto mit einem blauen Mützchen zu
versehen.

Für mich ist diese Art Angang, wie auch der Red-Nose-Day (immer diese
Anglizismen!) oder Lachtherapie, eher ein Hindernis (genau, eine
Barriere!) bei der Teilnahme, oder - habe, wie es wohl heute heißt im
Kirchentagsdeutsch, und etwas, das mich persönlich zu wie auch immer
gut gemeinten oder sogar tatsächlich guten Aktionen auf Abstand hält.

So sind die Leut verschieden.

Allemal viel Erfolg, mit und durch all die vielen, denen das nicht so geht
-
Man kann es eben nie allen recht machen - und sollte das auch lieber
gar nicht erst versuchen.

Silke Ecks

PS. Sie sollten sich erstmal nicht über mangelnde Reaktionen einer ja
immerhin nicht völlig plattformnahen Aktion beschweren - wer sagt
denn, dass nicht viele von den hier Mitlesenden bei den Mützchen
mitmachen? Das muss doch nicht extra hier verkündet werden.
Die Antwort auf Frage, wieviel Mitleser bei Ihrer Aktion mitmachen,
dürfte statistisch ähnlich schwierig zu erheben sein wie die, wie
viele Herr Graf zum Schweigen gebracht hat.

---------------

2010/12/2 SCHOBER Georg <Georg.SCHOBER@xxxxxxxxx>:
Zu den Nach- UND Auswirkungen des "Blue Beany Days" und der Wortmeldung
von Herrn Dr. Graf.

Nachfragenswert erscheint mir der Umstand, daß auf einer
bibliothekarischen Liste, die sich mit dem Thema "Internet und Bibliothek" 
beschäftigt
und von Tausenden BibliothekarInnen und Menschen aus anderen
Informationsberufen genutzt wird, mein Beitrag zum "Blue Beanie Day", der 
sich zugegebener
Maßen in humorvoller Weise dem Thema "Barrierefreiheit" zu näheren
versucht, kaum erkennbares Interesse geweckt hat.

Ich frage mich nach den Gründen für das Nicht-Reagieren der
Listenmitglieder:

Weihnachtsstreß?
Alle Bibliotheken haben das Thema "Barrierefreiheit" vorbildlich
gelöst?
Das Interesse für das Thema hält sich in Grenzen bzw. ist nicht
vorhanden?
Der humorvolle Zugang über den "Blue Beanie Day" bildet eine Hürde?
Und wie paßt dies alles mit über 250 Aufrufen der Seite
<http://literaturblog-duftender-doppelpunkt.at/2010/11/26/4-blue-beanie-day/>
 in den auf
die Veröffentlichung meines ursprümglichen Mails folgenden 2 Stunden
zusammen?

Bezüglich der Wortmeldung von Herrn Graf hätte ich mir mehr Contenance
seinerseits, zwar nicht erwartet, aber erhofft.

Glücklicherweise befinden wir uns ja noch in der Vorweihnachtszeit und
können so die folgenden Überlegungen von Joachim Ringelnatz ruhigen
Gewissens ausschließen: "Die besinnlichen Tage zwischen Weihnachten und 
Neujahr
haben schon manchen um die Besinnung gebracht."

Im übrigen frage ich mich, wie viele KollegInnen, die etwas zu sagen
bzw. zu schreiben hätten, sich im Verlauf der letzten Jahre von Herrn Dr.
Graf zum Schweigen bringen ließen? "sapienti sat!" ;-)

Mit freundlichen Grüßen
Georg Schober

PS: Durch standardkonforme Sites bzw. Webangebote, die auf
Barrierefreiheit Wert legen, können die BesucherInnen beispielsweise auch 
ohne Maus,
lediglich mit der Tastatur navigieren. Mit der Tab-Taste springt man jeweils
einen Link weiter und durch das Drücken der Entertaste folgt man dem Link
zur neuen Seite. Wozu? Weil dies für gar nicht so wenige Menschen die
einzige Möglichkeit ist, Websites zu bedienen. Natürlich ist dies etwas
mühsamer als mit der Maus. Wirklich mühsam wird es aber dann, wenn die
Tab-Reihenfolge auf einer Seite "verquer" ist. Beispielsweise: Man muß zuerst
immer eine lange Liste an Navigationslinks "durcharbeiten", bevor man zu den
Links im jeweiligen Inhaltsbereich kommt. Oder einzelne Links sind mittels
der Tab-Taste gar nicht zugänglich. LUST AUF EINEN KLEINEN TEST MIT DER
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