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Re: [InetBib] Literatur zur "Bibliothekenkrise"



Liebe Kolleginnen und Kollegen,

zur Zeit haben wir es ja wieder mit Krisen aller Art zutun. Ich habe jetzt
eine Anfrage bzgl. Literatur (Aufsätze und Graues inklusive) zur
Bibliothekenkrise, d.h. zu den Problematiken, die die neuen Medien und das
Urheberrecht für Bibliotheken (ÖB & WB) mit sich bringen. Hat da jemand
eventuell noch einen Tipp für mich? Es sollte möglichst aktuell sein.

Besten Dank!

Mit freundlichem Gruß,

Florian Zenner
Stadtbibliothek Eisenach


Sehr geehrter Herr Zenner,

Sie haben zwar Recht, dass es im Moment gerade sehr modern ist, bei jeder
Gelegenheit von Krise zu sprechen, da die Massenmedien zum Erhalt ihrer
Existenz möglichst große Auflagenzahlen (Rechweiten) anstreben und dazu
krisenartiger Sensationen bedürfen. Bei den Bibliotheken ist das
allerdings etwas anders.
A. Interessiert die Bibliothekskrise die Massenmedien vergleichsweise wenig.
B. Soll es eine Zeitschriftenkrise geben, in der seit vielen Jahren
festgestellt wird, dass die Zeitschriftenpreise zu rasch ansteigen.
C. Soll es eine Digitalisierungskrise geben, bei der viele Laien annehmen,
dass die Bibliotheken (als herkömmliche Gebäude) bald nicht mehr gebraucht
werden, weil ja alles über das Internet abwickelbar ist.
D. Soll es ein Bibliothekssterben geben, dass das Ende des
Bibliothekwesens bereits anzeigt.

Daneben gilt:
1. Ist die Zeitschriftenkrise (bzw. die der Buchpreise) nicht neu, sondern
reicht mindestens auf Leibniz zurück, der auch schon beklagte, dass seine
Bibliothek einen zu geringen Erwerbungsetat habe. Dass sie „gleich dem
Feuer und Leben ein stetes Aliment und Zuwachs haben müße“. Seit ihrer
Existenz mussten Bibliotheken immer um ausreichende Erwerbungsetats
kämpfen, dass ist heut nicht anders als früher. Heute sind es nur sehr
viel mehr Bibliotheken als früher.
2. Ist den meisten Menschen, die sich zur Krise der Bibliotheken äußern
nicht klar, dass es äußerste problematisch ist, von einer Krise zu
sprechen, in einem Bereich, der seit Jahrhunderten ungebrochen mit einer
jährlichen Wachstumsrate von 3,5% (das ist eine Verdopplung innerhalb von
20 Jahren) wächst. Weil das auf dem Informationsträger Papier so nicht
mehr möglich war, fand im letzten halben Jahrhundert die unausweichliche
Digitalisierung und damit der Wechsel zur Digitalen Bibliothek statt. Bei
diesem rasanten Wachstum von Krise zu sprechen, ist äußerst fragwürdig.
3. Die Digitalisierung hat das Verlagswesen in einen Umbruch gebracht, aus
dem es hofft, mit entsprechenden juristischen Maßnahmen möglichst
gewinnbringend heraus zu kommen, da ihre alte Funktion, als Verleger (die
Geld Vorlegen, damit Publikationen gedruckt, gebunden, verbreitet und
bekannt gemacht werden können) weitgehend obsolet wurde.

Dass insbesondere die großen wissenschaftlichen Zeitschriftenherausgeber
heute horrende Preise verlangen können, hat seine Gründe 1. im Science
Citation Index (der eine Reihe von Zeitschriften so bekannt werden ließ
(impact factor), dass Bibliotheken deren Erwerbung unausweichlich machte)
und 2. im Copyright (dass es den Verlagen erlaubt, die Preise beliebig zu
erhöhen) so dass die Open Access Bewegung nun ein Gegengewicht zu erzeugen
versucht.

Dass die Digitalisierung keine Krise, sondern die einzige Chance ist, die
Menge an heutiger Information zu managen, ist eigentlich allgemein
bekannt. Eine Gefahr für das Bibliothekswesen wäre diese nur gewesen, wenn
die Bibliotheken, den Wechsel zur Digitalen Bibliothek verschlafen hätten.
In Wirklichkeit, waren aber gerade sie es in den USA, die mit dem Weinberg
Report (1963) den Umstieg (MEDLARS, BIOSIS, SciSearch, ChemAbs, etc.) mit
gestaltet haben. Nur wer unter Bibliothek heute noch Gebäude versteht, die
gedruckte Bücher enthalten, gefährdet das Bibliothekswesen der Zukunft,
was aber inzwischen als geradezu abenteuerlich veraltet angesehen werden
muss, im Zeitalter der Digitalen Bibliothek.


Dass so oft beschworene Bibliothekssterben, sowie das früher viel
diskutierte Zeitschriftensterben übersieht meist das Faktum, dass neben
der Zahl an schließenden Bibliotheken eine (weltweit betrachtet) etwa
doppelte Zahl an Neueröffnungen steht. Das ist also ein Erneuerungsprozess
und kein Sterbeprozess. In vielen Fällen (insbesondere nach dem Mauerfall)
wurden auch kleine Bibliotheken in größere Neubauten aufgenommen.

Die so oft zitierte Krise des Bibliothekswesens liegt also in ihrer
geradezu erschreckenden Wachstumsdynamik. Ich habe mich dazu u.a. in
„Zwischen Informationsflut und Wissenswachstum“ (2009) S. 275 ff geäußert.

All das heißt nicht, dass die Bibliotheken nicht auch heute um ihre
Existenz kämpfen müssen, es ist aber gefährlich ein solches Wachstum in
ein Bibliotheksuntergangsszenarium umzumünzen.

MfG

W. Umstätter



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