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Re: [InetBib] Schlechte Bücher? Publikationsmöglichkeiten im 21. Jahrhundert als Herausforderung für Bibliotheken



Am 2013-09-11 14:08, schrieb Eric Steinhauer:
Liebe Liste,

auf die Gefahr hin, den Gang der laufenden Diskussion nicht
vollständig zu erfassen: Ich halte für die geistes- und
kulturwissenschaftliche Lektüre (Lektüre, NICHT Literatur) die Rede
von einer Halbwertzeit, die ja eine stetige Abnahme der Relevanz
suggeriert, für unvollständig.

Ich denke, dass eine stetige Abnahme unbestritten ist, da sie immer wieder
beobachtet wurde. Es ist aber durchaus richtig, dass eine vollständige
Betrachtung der Problematik komplizierter ist. So gibt
es eine interessante Abweichung von der Halbwertszeitfunktion von 5 Jahren,
die die Citation Classics bzw. auch Arbeiten die aus ihrer Vergessenheit
gerissen werden, mit etwa 5 % betrifft. Dies ist aber eine rein quantitative Erfassung, während Sie Herr Steinhauer dankenswerterweise auf das inhaltliche
Problem dabei eingehen). Sehr alte Arbeiten werden
also etwas öfter zitiert als es die reine e-Funktion erwarten lässt, weil es immer wieder (meist erfahrene) Wissenschaftler gibt, die nach alten Quellen
suchen, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen.
Auch bei den allerneusten Publikationen gibt es bemerkenswerte Beobachtungen dazu,
die nachgelesen werden können.

Wichtig scheint mir aber noch ein Punkt, bei dem ich schon oft Missverständnisse erlebt habe. Die Halbwertszeit besagt ja gerade, dass Literatur noch so alt sein kann, ihre Bedeutung sinkt nie auf Null. Insofern ist "veraltete Literatur" NICHT "einfach [zu] entsorgen". Dass alte Literatur auch seltener als neue ist, und damit seltener zitiert wird, wurde in der Halbwertszeitdiskussion auch schon, erörtert, nur die Halbwertszeit beträgt 5 J. und die Verdopplungsrate 20 J.
Insofern ist der Filtereffekt gut erkennbar.

Richtig ist, dass auch in den Geisteswissenschaften wissenschaftliche
Literatur in dem Sinne veraltet, als ihre Lektüre für die aktuelle
wissenschaftliche Diskussion nicht mehr "hilfreich" ist, weil sie
keine anschlussfähige Fragestellung mehr aufweist. Hier kann man
tatsächlich von einer Halbwertszeit reden. Ich glaube auch nicht, dass
in diesem Sinne veraltete Literatur jemals wieder als
wissenschaftliche Literatur aktuell werden wird und Zeitgenossenschaft
zu ihren Lesen beanspruchen kann. Im Vergleich zu den
Naturwissenschaften sehe ich hier zwar eine längere Halbwertszeit, das
ändert aber nichts an der Grundrichtung.

ABER: Nach einer gewissen "Dornröschenzeit" von vielleicht 30 oder
mehr Jahren feiert diese Literatur jedenfalls für den
kulturwissenschaftlichen Leser eine grandiose Auferstehung, nämlich
als QUELLE für seine aktuelle wissenschaftliche Arbeit. Bibliotheken,
die sehr kurzsichtig bloß auf "Informationsversorgung" ihrer
gegenwärtigen Leser schielen, werden es bitter bereuen, wenn sie
vermeintlich veraltete Literatur einfach entsorgen, bloß weil die ein
paar Jahrzehnte niemand mehr ausgliehen hat.

Wer ein Beispiel sucht, der wird etwa beim Telegraphenrecht fündig:
http://dx.doi.org/10.1515/bd.2008.42.6.660

Eine andere, pragmatische Frage ist aber, ob diese Quellen in voller
Breite in jeder Bibliothek vorhanden sein müssen oder ob man hier
Sammlungen und spezielle Speichen bilden und sich im Übrigen auf
Exemplarisches konzentrieren sollte. Ein wenig beachtete Funktion
haben hier auch der Antiquariatsbuchhandel und private Sammlungen, die
gewissermaßen als kulturelle Gedächtnisreserve fungieren. (Also, wer
meine Postrechtsammlung mal bekommen wird ... :))

Viele Grüße
ste

--
Dr. Eric W. Steinhauer
Dezernent für Medienbearbeitung
Fachreferent für Allgemeines, Rechts-, Staats- und Politikwissenschaft
Fernuniversität in Hagen - Universitätsbibliothek
Universitätsstr. 21 - 58097 Hagen
Tel: 02331 / 987 - 2890
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MfG
Walther Umstätter

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