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Re: [InetBib] Beitrag zur aktuellen Bibliotheksdebatte



Lieber Christoph & Ihr anderen "da draußen",

es ist immer wieder nett, mit Dir als einem der wesentlichen "change
agents" des Bibliothekswesens die geistige "klinge zu kreuzen".

*Indes ich vermag keine wirklich Widersprüche zu entdecken...*

Nun, wir argumentieren von verschiedenen Bezugssystemen aus. Ich leite seit
25 Jahren eine Kleinstadtbücherei, die gleichzeitig die Schulbibliothek des
einzigen Gymnasiums ist, mit dem sie sich im gleichen Gebäude befindet. Die
"digital natives" mit ihren Lebenswelten sind mein täglich Brot. Über 40 %
unserer Ausleihen sind Non-book. Zwei meiner erwachsenen Kinder haben
Medien zum Beruf gemacht, meine älteste Tochter ist studierte
Medienwissenschaftlerin und Journalistin, mein Sohn studiert nach einer
Ausbildung zum Mediengestalter beim BR nun "Musik & Medien" an einer
Musikhochschule - und ist übrigens auch Schlagzeuger. Also Erfahrung satt.
Vom Studium her bin ich Historiker mit großem Interesse an
systemtheoretischen Fragestellungen. Aus diesem Grunde gehen mir bei
Formulierungen - was Du ja schon vermutest hast :

*wie Bibliotheken als Ganzes Teil der Digitalisierung unserer Gesellschaft
werden können*

eine ganze Batterie von Warnleuchten an. "Digitalisierung der Gesellschaft"
gehört für mich zu jenem "Jargon" - und das ist durchaus negativ gemeint,
in dem heute viele bibliothekspolitische Papiere & Vorträge geschrieben
sind. Dies sind für mich Sprachregelungen, die Denkwege verkürzen und
bestimmte Fragestellungen erst gar nicht zulassen.

*Jedoch ist das Buch trotz allem nur eine von vielen Plattformen.*

Das Fass "Oralität" versus "Schriftlichkeit" mache ich hier nicht auf.
Übrigens ist (E-)"Buch" keine "Plattform", sondern eine Form der
Schriftlichkeit, die sich im Laufe einer jahrhundertelangen Geschichte zu
relativ klaren Formaten entwickelt hat.

Aber nun zur Empirie:

*1.    Die selbeR Lernenden nutzen Soziale Medien, Youtube-Videos, Podcast
etc. als gleichberechtigte Medien. Sie kommunizieren ihre Inhalte auf
unterschiedlichen analogen und digitalen Kanälen.*

Ich weiß nicht, wie Du zu dieser steilen Behauptung kommst, sie
widerspricht völlig meiner Erfahrung. "Meine" Jugendlichen ziehen mit C&P
zwar reichlich Texte aus dem Internet, aber mir ist noch niemand
untergekommen, der auf youtube TED-Videos anschaut. Ich gehe jede Wette
ein, dass die Hälfte der Oberstufe mit dem Wort "podcast" nichts anfangen
kann. Aber ich werde bei nächster Gelegenheit mal fragen...Die Kids nutzen
die "Medien" genauso wie Erwachsene, zur Unterhaltung, selbst Fernsehen ist
mit gut zwei Stunden Sehdauer pro Tag noch "in".

Das meine ich mit "Jargon":

*Wir erleben eine Gesellschaft, in der es für immer mehr Menschen völlig
normal ist, sowohl mit analogen als auch mit digitalen Medien, zu arbeiten,
zu kommunizieren, zu lernen, sich kulturell auszudrücken etc. Gerade die
digitalen Medienformen stehen weniger für für Technologien als vielmehr für
eine neue Kultur bzw. eine neue Form zu kommunizieren, zu denken und zu
arbeiten.*

Ich habe da viele Fragen: Was ist "neu", was ist anders (die Inhalte?)?
Wieviele Menschen drücken sich tatsächlich digital "neu" aus? Sind
Babybilder über whatsapp "neu"?

*Im digitalen halten sich Kultur und Bildung vornehm zurück.*

Das verstehe ich nicht, gerade die Öffentlich-Rechtlichen sind hier mächtig
unterwegs, siehe z.B. "dradio-wissen".

*wenn wir zudem akzeptieren, dass kein Medium an sich besser als ein
anderes ist,*

Diese Frage halte ich für irgendwie unsinnig, denn es wäre zu klären
"besser" in Bezug auf was. Natürlich kann eine grafische Simulation
Zusammenhänge oft besser erklären als verschwurbelte Schachtelsätze, etwa
ein Simulationsspiel die Ökonomiezwänge des Mittelalters.

*Wo beginnen z.B. Bibliotheken, Youtube-Videos als Teil ihres Bestandes zu
sehen bzw. diese Videos mit in ihre Beratungsangebote aufzunehmen?*

Gerne. Aber bitte nicht mit dem Anspruch "Gesellschaft zu gestalten".

*Eine Bibliothek allein ist nicht in der Lage, hier in irgendeiner Form
etwas zu bewegen. Das kann auch keine Bibliothek im analogen Raum. Aber ein
Netzwerk von hunderten Bibliotheken, die gemeinsam digital (sei es Social
Media, seien es neue Formen von OPACs, sei es die gemeinsame Erschließung
von Youtube und Co.*[BITTE NICHT! Bis wir ein Regelwerk erarbeitet haben
gibt es das nicht mehr...]*, sei es die gemeinsame Umsetzung von
Gaming-Projekten) aktiv sind, beginnt einen Gestaltungsprozess.*

Ja und nein. Das Problem, dass ich hier sehe, ist, dass die Mediennutzung
heute schon bei gut 9 Stunden / pro Tag liegt (Mehrfachnutzung! Siehe Media
Perspektiven 11/2015). Hier Nutzungszeiten in einen institutionellen Rahmen
wie Bibliothek (zurück) zu legen, stelle ich mir sehr schwierig vor. Events
(Science-Slam etc) werden immer laufen, aber nicht als Tagesgeschäft.

Hope it was helpful!


Mit freundlichen Grüßen

Jochen Dudeck
Stadtbücherei Nordenham
An der Gate 11
26954 Nordenham
04731 923210

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Blog: http://nordenhamerbuecherei.wordpress.com

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