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Re: [InetBib] Ich bin ein Informatiker, AMA



Eine anonyme Frage:

Ich bin selbst als Informatiker vor einigen Jahren in die Bibliothekswelt
eingetaucht und wurde direkt mit der von Dir auch angesprochenen
"Untergangs-Hysterie" konfrontiert. Dazu habe ich mitlerweile meine eigenen
Ansichten und Erfahrungen gesammelt. Mich würde sehr interessieren, wie Du das
Aufkommen und die Entstehung dieser Hysterie im Bibliothekswesen betrachtest
und auch beurteilst. Meiner Meinung nach geht diese Hysterie um die Zukunft 
des
physischen Buches am eigentlichen Thema vorbei und verheitzt viel unnötige
Energie mit zugleich sehr starken Emotionen der Bibliothekare.

Eine Gefahr fuer das physische Buch habe ich nie gesehen und
als Quelle der Sorge auch nicht wahrgenommen; in meinen Augen
ging es immer um die Bibliothek als Institution in ihrer
bisherigen Form.

Wie betrachtest Du diese Hysterie und ihre Ausmaße?

Was sind Deiner Meinung nach die Ursachen der Hysterie?

Wie kann man Bibliothekaren die Angst um ihre Zukunft nehmen?

Diese Fragen erinnern mich dann doch etwas an das in den
anderen Mails erwaehnte Orakel. ;-)

Auf die letzte Frage habe ich eigentlich schon eine Antwort
gegeben: Nicht jammernd zurueckschauen sondern ruhig und
konstruktiv in die Zukunft gehen. Das ist IMO grossteils eine
Einstellungssache.

Die Sorge, Bibliotheken koennten ``untergehen'', greift halt
die sichergeglaubte Basis von recht sicherheitsbeduerftigen
Bibliothekaren an. Das fuehrt zu Angst. Ich will das gar
nicht kritisieren, weil das eine natuerliche Reaktion ist.
Die Frage ist, wie man damit umgeht. Erst wenn die Masse
anfaengt zu kreischen, dann entsteht Hysterie.

Aber ich habe den Eindruck, dass der schlimmste Punkt schon
ueberwunden ist und die Bibliothekswelt ihrem befuerchteten
Untergang nun schon sachlicher entgegen schaut.

Meiner Meinung nach hilft es, die Angst nicht immer wieder
an die Wand zu malen. Gleichzeitig ist es aber notwendig
sich zu informieren, weil das vage Hintergrundaengste
bekaempft. Insofern waren die vielen Diskussionen darueber
bestimmt noetig. Man muss halt darauf achten, diese sachlich
zu fuehren.


Ich tue mir bei dem ganzen Thema leichter, weil mir die
Bibliothek (als etwas Fixes, klar Definiertes) wenig wichtig
ist, aber meiner Meinung nach spricht auch grundsaetzlich
einiges dafuer, die Dinge etwas entspannter zu sehen (was die
Bibliothekare bei anderen Themen auch gut koennen). In diesem
Sinne wuerde ich es in den Worten der Fanta-Werbung sagen:

        Bibliothek ist was ihr draus macht!

Zur Haelfte hat man es selbst in der Hand, seine Zukunft zu
formen. (Das ist vielleicht Ausdruck einer typischen
Informatikermetalitaet. :-) )


Wie sehr hat Dich die Weltanschauung der Bibliothekare als
Informatiker beeinflusst?

Sehr gute Frage! :-) Es ist naemlich nicht bloss so, dass das
Bibliothekswesen von der Informatik lernen kann, sondern
selbstverstaendlich ist das auch andersrum der Fall.

Was ich in der Bibliothek und noch mehr im Archiv mag ist das
langfristigere Denken. In der Informatik schaut man ja kaum
mal fuenf Jahre voraus ... und repariert oft auf Bugs gar
nicht mehr, wenn ein Programm die Haelfte seiner
kurzjaehrigen Lebensdauer ueberschritten hat. Ich mag, dass
in Bibliotheken und Archiven aufgrund langsamerer Prozesse
Qualitaet wichtiger ist. ... aber damit habe ich mich etwas
um die eigentliche Frage gedrueckt, weil ich hier bloss meine
eigene Weltanschauung wiedergefunden habe, sie aber nicht
gepraegt wurde. Ich war da schon, aber der Rest der
Informatik koennte sich da ruhig mal praegen lassen. ;-)

Hmm ... ich tue mich etwas schwer damit, in den letzten
Jahren ueberhaupt etwas berufliches zu finden, das meine
Weltanschauung richtiggehend gepraegt haette. Bin ich
inzwischen schon zu alt und zu stark selbst definiert? (Und
damit zu wenig offen?) Was meinen Blick auf die Welt halt
umfassend gepraegt hat, war die Unix Philosophie, also das
Thema Einfachheit (als Gegenteil von Komplexitaet). Dieses
beschaeftigt mich nun seit ueber zehn Jahren intensiv. Es
gibt keinen anderen vergleichbaren Einfluss.

Ansonsten hat mich das Openstreetmap-Projekt beeindruckt, in
der Art wie dort zusammengearbeitet wird, dass es ueberhaupt
funktioniert, obwohl es kaum feste Regeln gibt. Ich habe mich
immer gefragt, wie es waere wenn man RDA so betreiben
wuerde ... Die Wikipedia hat mich damals weniger beeindruckt
weil ich mir einfacher vorstellen konnte, dass das alles so
funktioniert ... und wie man es aufziehen muss, damit es so
funktioniert.

Was hat mich nun aber in der Bibliothek beeindruckt und damit 
meinem Leben etwas Anhaltendes mitgegeben? Am meisten
wahrscheinlich mein Referendarskurs in Muenchen: Diese
vielseitige Fachkompetenz auf einem Fleck! Mir ist das wie
ein Thinktank vorgekommen ... bloss dass wir auf der
Schulbank gesessen sind. ;-D Jedenfalls habe ich dabei eine
Menge ueber Geisteswissenschaftler gelernt. Das laesst sich
schwer in Worte fassen. Ich hab sie besser verstanden, besser
verstanden wie sie denken, warum sie so und so denken, wie
sie sich in Diskussionen verhalten, wie bei Vortraegen
Fragen gestellt werden, und und und. Dadurch habe ich auch
mich selbst als Informatiker besser in den Gesamtkontext
einordnen koennen. Ja, das hat mich sehr positiv gepraegt.
Diese Zeit ist mir viel wert.


Ansonsten hat mich die Bibliothek und ueberhaupt die Umgebung
des oeffentlichen Dienstes leider in erster Linie dadurch
gepraegt, dass bei mir ankam, dass sich Eigenmotivation und
kreative Energie nur zu einem kleinen Teil lohnen, weil man
damit viel mehr gegen Mauern anrennen muss als dass man
etwas bewegen kann. Das Aufwand-Erfolgs-Verhaeltsnis ist so
schlecht, dass man irgendwann keine Lust mehr hat, seine
Energie zu verschwenden ... also passt man sich an. Dann
wird man wenigstens nicht mehr so oft enttaeuscht.


(Es ist natuerlich nicht ueberall im Bibliothekswesen und
oeffentlichen Dienst so und es ist auch nicht ueberall in
der Informatik anders.)


markus


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.