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Re: [InetBib] DNB, die "schlechteste Nationalbibliothek der Galaxis" (Graf), laesst einmal mehr URN-Links ins Leere laufen



Lieber Kollege Gödert,

ehrlich gesagt fällt es mir schwer, einen Zusammenhang zwischen technischen Ausfällen aufgrund einer DoS-Attacke und der Qualität der Erschließung in der DNB zu erkennen.

Und: Ich bin zwar gewiss nicht glücklich über alle strategischen Entscheidungen, die in den letzten Jahren an der DNB getroffen worden sind, empfinde jedoch ein pauschales DNB-Bashing als sachlich unangemessen und persönlich unfair. Ich arbeite in den Expertengremien und zuletzt im großen Projekt zum Aufbau der neuen Dokumentationsplattform RDA DACH eng mit vielen DNB-Kolleg:innen zusammen und erlebe diese als hochengagiert, sehr kompetent und sich leidenschaftlich für die Erschließung einsetzend.

Einige Gedanken zu Ihren in der Tat etwas kryptischen Ausführungen (wobei ich mutmaße, dass es Ihnen primär um Sacherschließung geht und Sie mit der eigenartigen Fokussierung auf "Daten" eigentlich maschinelle Erschließungsformen meinen).

1. Ich stimme zu, dass Erschließung zu wenig Lobby hat und ihr nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wird, obwohl sie weiterhin eine zentrale Grundlage sehr vieler Bibliotheksdienstleistungen ist. Bei der DNB beobachte ich dies aber weniger als bei vielen "normalen" WBs, an denen Erschließungsarbeit nicht mehr sonderlich wertgeschätzt, teilweise auch heruntergefahren wird.

2. Um eine gute Erschließung unserer Ressourcen zu erreichen, ist die DNB zwar sicher ein wichtiger Player, aber eben keineswegs der einzige. Es ist leider trotz vereinzelter Ansätze in den vergangenen Jahren nicht gelungen, ein System mit verteilten Verantwortlichkeiten zu entwickeln, um sicherzustellen, dass die in der Breite vorhandenen Ressourcen möglichst effizient und effektiv eingesetzt werden (noch immer werden manche Ressourcen mehrfach an unterschiedlichen Stellen erschlossen und andere gar nicht).

3. Bei der DNB besteht - wie bei anderen Nationalbibliotheken auch - ein erhebliches Missverhältnis zwischen den vorhandenen Ressourcen und den immer größer werdenden Aufgaben. Auch andere Nationalbibliotheken reagieren auf dieses Spannungsverhältnis. So habe ich schon vor Jahren gehört, dass die British Library erhebliche Teile der Katalogisierung nach Indien outgesourct hat. Und die Schweizerische Nationalbibliothek beschränkt sich (wenn ich es richtig im Kopf habe, ansonsten möge man mich bitte korrigieren) bei der Sacherschließung mittlerweile im Wesentlichen auf die Helvetica.

4. Eine hochwertige intellektuelle Erschließung des kompletten Bestands ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen illusorisch. Es ist klar, dass zum einen ein Methodenmix zum Einsatz kommen muss, der auch maschinelle Anteile enthält, und zum anderen abgewogen und entschieden werden muss, welche Teile des Bestands wie erschlossen werden sollen. Beides sind schwierige Fragen, bei denen man sicher auch zu unterschiedlichen Antworten kommen kann. Ich persönlich würde mir hier eine breite Diskussion in der ganzen Community wünschen (vereinzelt ist dies auch schon passiert, müsste aber m.E. verstärkt werden).

5. Ich bin bekannt als jemand, die maschinelle Indexierungsverfahren kritisch betrachtet und begleitet. Nichtsdestoweniger ist auch für mich klar, dass wir ohne sie nicht auskommen werden. Und erfreulicherweise geht die Entwicklung durchaus voran. Gerade erst hat Frau Mödden auf der BiblioCon vom aktuellen KI-Projekt der DNB berichtet (Abstract siehe https://opus4.kobv.de/opus4-bib-info/frontdoor/index/index/searchtype/collection/id/17536/start/211/rows/20/sortfield/author/sortorder/asc/docId/18444). Zu den rein maschinellen Methoden kommen zahlreiche Entwicklungen, die intellektuelle Erschließung und maschinelle Verfahren kombinieren - z.B. die diversen Tools, die in der VZG entwickelt werden (Abstract und Folien siehe https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0290-opus4-184278).

Die große Aufgabe ist es m.E., ein Gesamtkonzept für die in meinen Punkten 2., 4. und 5. angerissenen Aspekte zu entwickeln. Und dies ist nicht nur eine Aufgabe der DNB, sondern eine der ganzen Community.

Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller




Am 30.05.2023 um 19:17 schrieb Winfried Gödert via InetBib:
Der Beitrag von Klaus Graf vom 26.05.2023 hat im Rahmen der Liste bislang keine offene Reaktion hervorgerufen. Daher will ich die Lücke füllen, auch wenn dies von manchem als Stimme aus der Gruft empfunden werden könnte. Die von Klaus Graf angesprochenen Sachverhalte verdienen über ihre spezifischen Aussagen hinaus mehr als nur eine oberflächliche Wahrnehmung. Nun bin nicht ich die Instanz, dies in Einzelheiten auszubreiten, ich kann nur auf einen Zusammenhang mit einem anderen Thema verweisen, das sich als vormals zentrales bibliothekarisches Handlungsfeld seit Jahren auf einer schiefen Ebene abwärts befindet und dessen Standards allenfalls noch im Sinne eines historischen Vermächtnisses betrachtet, nicht aber mit Potenzial für eine Zukunftsgestaltung eingeschätzt werden. Das Thema heißt Erschließung. Der Zusammenhang ergibt sich über die Frage, ob es empfehlenswert ist, die Gestaltung bibliothekarischen Handelns so ausschließlich wie derzeit an das neue Datenparadigma zu binden und dabei die Abbildung von Zusammenhängen zu vernachlässigen. Erschließung als bibliothekarische Kerndisziplin (Alleinstellungs-Kompetenz ?) sollte in einem umfassenden Verständnis den Zugang zu Informationsträgern und ihren Inhalten schaffen, dabei Strukturen sichtbar machen und insbesondere stabile (!) Zusammenhänge zwischen Daten und den durch sie repräsentierten Inhalten herstellen und zur Verfügung stellen. Mit einer Vorstellung, Inhalte durch Daten zu ersetzen und alles für das bibliothekarische Handeln Notwendige aus reinen Daten zu generieren, kann die Bearbeitung einer solchen Aufgabe nicht gelingen. Eine neue Interpretation des alten Erschließungsverständnisses zu entwickeln und auf andere Handlungsfelder zu übertragen, wäre vielleicht ein nützlicherer Beitrag zur Stabilisierung bibliothekarischen Handelns, als wechselnden Zeitströmungen nachzulaufen. Fazit: Das Ausmaß, in dem diese Bemerkungen als kryptisch oder gar unverständlich empfunden werden, kann als Messwert für die Distanz gelten, die sich inzwischen zu ehemals leitenden Prinzipien eingestellt hat.

Winfried Gödert



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