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Re: Rechtschreib-Debakel



Kollege Kalok schrieb:

> 
> Anscheinend war das Wilhelminische Deutschland immer noch reformfreudiger
> als das Nach-Wende-Deutschland
> 
Damals war aber wohl der Druck viel groesser, weil es mehrere verschiedene
"Standards" gab, die unvereinbar waren.

Sicher haben wir mit den anwachsenden Daten alter Buecher eh schon wachsende 
Mengen von orthographisch uneinheitlichem Material. Deshalb rede ich bewusst 
von einem "Debakel", weil nun die ohnehin unbefriedigende Situation 
eigentlich ohne Not (im Vergleich zu 1905) verschaerft wird, und gleich 
durch vier verschiedene Kategorien von Detailproblemen, die sich 
unterschiedlich auswirken und denen zum Teil nur schwer beizukommem ist 
(besonders dem Getrenntschreibungsproblem).

Vom theoretischen, akademischen Standpunkt KANN man allerdings auch ganz 
anders argumentieren:

Titel sind problematische Elemente, jedenfalls ist die Art, wie wir damit 
umgehen, problematisch. Denn wir teilen ihnen eine Doppelfunktion zu:

1. Vorlagengetreue Beschreibung. Die ist unverzichtbar fuer das Suchen 
   und Identifizieren von genau bekannten Werken - die wichtigste 
   Aufgabe des Katalogs, und auch fuer den internationalen Austausch.

2. Zugriffskriterium. Titelwoerter machen meistens Sachaussagen ueber den
   Inhalt des Buches und werden deshalb nicht nur fuer formale, sondern  
   auch fuer thematische Zugriffe benutzt. Zugriffskriterien verlangen nach 
   Konsistenz, sonst sind sie unzuverlaessig.

Nur wenn man konsequent Ansetzungstitel in normierter Orthographie 
bilden wuerde, und das tun wir nicht, koennte man beide Funktionen 
zufriedenstellend bedienen, d.h. mit zwei verschiedenen Datenfeldern.
Wir konzentrieren uns aus wohlerwogenen Gruenden auf die erste, d.h. die
zweite kommt notwendigerweise zu kurz. Unsere Beschreibungen SIND konsistent
(naja, cum grano salis), deshalb KOENNEN die Zugriffskriterien gar nicht 
konsistent sein, weil dafuer dasselbe Datenfeld genutzt wird. 

In den Anfangsjahren der bibliothekarischen DV wurde viel diskutiert,
dass Titelstichwoerter als sachliche Zugriffe ungeeignet seien. Wir haben 
wenig getan, diese Tatsache den Benutzern nahezubringen. Unaufgeklaert wie 
sie sind, erwarten sie vom Computer zuverlaessige Antworten auf sachliche
Fragen. Nach Lage der Dinge kann er die nicht geben, und in Zukunft noch
weniger. 
Man koennte auch sagen, dass wir mit dem Angebot des Stichwortzugriffs
allzulange die Misere der Sacherschliessung verschleiert haben. Aber 
vertiefen wir das jetzt nicht, sonst wird die Diskussion uferlos.
Sonst kommen wir auch noch in die Philosophie und erkennen im unaufloesbaren 
Dilemma des Titelfeldes den Nachhall des scholastischen Universalien-
streits oder gar das Aufeinanderprallen von platonischem 
Begriffsrealismus und aristotelisch-thomanischem Nominalismus, wie es auch
noch in Goethes Schuelerszene anklingt: "... doch ein Begriff muss bei dem 
Worte sein!" 
Doch Worte sind Schatten, zumal Titelworte, die fuer sich genommen und
ohne Kenntnis des Inhalts manchmal gar keinen Sinn ergeben oder gar in die
Irre fuehren. Als Sachzugriff ist und bleibt der "Sach"-Titel von begrenztem
und zweifelhaftem Wert (er wird ja auch bald wieder nur noch "Titel" heissen,
auch in den RAK), und auf diese lange verdraengte Erkenntnis werden wir nun 
erneut und jetzt wohl endgueltig zurueckgeworfen. Wenn wir die Dinge so 
sehen wollen, liegt das eigentliche Debakel nicht in der sich aendernden 
Orthographie, sondern in den praktischen Folgen der besagten Verdraengung.
Ueberspitzt: das Kartenhaus wird endgueltig baufaellig.

Ueber den Gartenzaun hinausblickend ist aber dennoch festzuhalten, dass 
immer mehr Retrievalsysteme (Suchmaschinen!) ganz ohne intellektuelle 
Erschliessung auskommen muessen, und dass immer mehr Informationssuchende 
sich von solchen Instrumenten eine gewisse Verlaesslichkeit wuenschen. Hier 
muessen wir weiter vom "Debakel" reden, weil die Reform hier ganz 
unausweichlich die Qualitaet des Retrievals verschlechtern wird. Keine 
Entwarnung!

Es war nicht zuletzt die lange Stabilitaet (seit 1905), die dem Sachtitel
als Sachzugriff zugute gekommen ist, aber jetzt geht sie zuende. Wenn die
Reform uns zu hoeherer Einsicht und zu einer Aufwertung der Sacherschliessung 
fuehrt, hat sie insofern sogar ihr Gutes, obwohl man ja in der 
Schlagwortnormierung auch die neuen Schreibungen mindestens als Verweisungen 
einbringen muss.
Wenn man die Dinge so sehen will, ist man fast versucht, zu einem 
bibliothekarischen Aschermittwoch aufzurufen. Mindestens muessen wir ueber 
kurz oder lang unseren Nutzern endlich reinen Wein einschenken... (wenn die
nur zuhoeren wuerden!)

MfG B.E.


Bernhard Eversberg
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