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Re: OT: Wissen und Bibliothek



>Lieber Herr Eversberg, lieber Herr Jochum,
>ich wuerde das gern noch mal durch einen Perspektivwechsel ergaenzen. Ich
>kann nicht sehen, warum es gaenzlich falsch sein soll, zumindest im
>uebertragenen Sinn auch von einem "Wissensspeicher" zu sprechen. 

Im übertragenen Sinn können wir gerne so sprechen, solange wir wissen,
daß wir im übertragenen Sinn so sprechen. Sobald es zur Theoriebildung
kommt und über die Theorie dann auch praxisrelevante Handlungsentwürfe
gemacht werden, muß man die Metaphorik verabschieden und analytisch
sauber trennen, was getrennt gehört. Und das ist ja auch nicht schwer:
Natürlich ist in der Anleitung zum Apparatebau --- das ist Ihr
beispiel --- Wissen gespeichert; aber welches denn? Um zu wissen, was
da steht, müssen Sie Ihr Vorwissen aktivieren und, ausgehend von
diesem Vorwissen, den Text lesen, dabei Hypothesen über das vermutlich
Gemeinte bildend, und das Ganze dann in einem hoffentlich
erfolgreichen Apparatebau bestätigt findend. Das ist gute alte
Hermeneutik. Deren einzige Pointe darin liegt: daß Sie das Wissen, um
das es geht, nicht einfach dem Text entnehmen (der Text ist kein
Container für Wissen), sondern in einem komplexen Lektürevorgang in
der eigenen reflektierten Auseinandersetzung mit dem Text generieren.

Bei Bauanleitungen mag das noch wie ein Klacks scheinen, spätestens
bei Kants "Kritik der reinen Vernunft" ist es dann kein Klacks
mehr. Wenn das zustimmungsfähig ist, dann folgt daraus allerdings, daß
Wissenschaft nicht deshalb Wissenschaft ist, weil sie Wissenscontainer
unters Volk bringt oder Wissenscontainer sich vermehren läßt, sondern
weil sie über die komplexen Entstehungs- und Rezeptionsvorgänge von
Wissen Bescheid weiß und das kritisch reflektiert; und dazu gehört,
daß man weiß, daß Wissen keine Entität ist, die man verschieben kann
wie Güter auf dem Verschiebebahnhof.

Schöne Grüße,

Uwe Jochum


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.