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Re: Zeitschriften und Urheberrecht



Liebe Liste,

jeder, der erwägt, Zeitschriften zu digitalisieren, wird vor immense
rechtliche Probleme gestellt. Das geltende Urheberrecht gibt dem Autor und seinen
Rechtsnachfolgern das Recht an der geistigen Schöpfung 70 Jahre post mortem
auctoris. Das kann zu dem grotesken Ergebnis führen, daß ein 1930 publizierter
Aufsatz eines 1910 geborenen Verfassers, der 1932 verstorben ist, nun
gemeinfrei, ein 1870 publizierter Aufsatz eines 1840 geborenen und 1940 gestorbenen
Autors (Ernst-Jünger-Phänomen) aber urhberrechtlich geschützt ist. Von daher
ist es praktisch kaum möglich, eine allgemeine zeitliche Grenze für die
Digitalisierbarkeit von Aufsätzen anzugeben, es sei denn, man sagt: alles vor 1850!
In der Praxis geht man freilich andere Wege und setzt 1900, teilweise sogar
1920 als Grenze an, wohl deshalb, weil man damit rechnet, daß die Erben
unbedeutender Autoren (das sind die meisten Zeitschriftenschreiber: vanitas
mundi!) die digitale Verwertung nicht verfolgen/bemerken. 

Streng genommen müßte man aber jeden Autor bzw. Rechtsnachfolger befragen,
denn bei vor 1995 publizierten Arbeiten liegen die Rechte der
online-Publikation grundsätzlich immer beim Autor und seinen Rechtsnachfolgern, nie aber beim
Verlag. Den Weg, jeden zu fragen, kann niemand beschreiten. Es müßten
zunächst die Lebensdaten der Autoren erhoben, dann eventuelle Rechtsnachfolger
gesucht werden. Bei einem Autor, der fünf Kinder hat, die wiederum mehrere Kinder
haben, einige davon schon verstorben, etc. gibt sich leicht eine
Rechtsnachfolge auf 10 und mehr Personen. Für ganze Zeitschriftenreihen hochgerechnet
wären über 100.000 Personen zu fragen, die freilich erst ausfindig gemacht
werden müssen. Hier zeigt sich das Illusorische eines Vorgehens strikt nach
Gesetz.

Von daher werden in der Praxis zwischen Bibliothek und Verlag Freistellungen
ausgehandelt. Der Verlag übernimmt das wirtschaftliche Riskio der unbefugten
Verwertung und zahlt die Rechteinhaber aus, die Bibliothek digitalisiert
munter. Für die Verlage rechnet sich das, da die Kosten der Digitalisierung
höher sind als eventuelle Schadensersatzforderungen. Vor allem bei laufenden
Zeitschriften ist das Verfahren attraktiv, da der Verlag seine aktuellen Titel,
die online zur Verfügung stehen, durch bibliotheksseitig erstellte Backfiles
aufwerten kann.

Die ganze Sache hat aber einen Haken. Die Freistellung betrifft nur die
zivilrechtliche Seite. Es geht um Schadensersatz und darum, einen unberechtigt
digitalisierten Artikel zu löschen. Darüber hinaus ist die
Urheberrechtsverletzung aber strafbewehrt. Das steht nicht zur Disposition von Bibliothek und
Verlag, es sei denn, man tut so, als sei die Zustimmung des Verlages wie eine
mutmaßliche Einwilligung der Autoren bzw. Rechteinhaber zu werten. Grauzone!

Kurz und gut: die ganze Konstruktion des Urheberrechts ist den heutigen
Verhältnissen kaum angemessen. Natürlich sollte der Autor zu Lebzeiten im vollem
Besitz seiner Rechte sein. Nach seinem Tod aber sollten diese Rechte nach
zehn Jahren erlöschen, es sei denn, die Erben melden einen weiteren Schutz an,
der dann von mir aus 70 Jahre post mortem dauern kann. Damit wäre der für die
breite Masse der wirtschaftlich wertlosen Artikel unverhältnismäßig lange
Schutzzeitraum vermieden und dort, wo wirtschaftlich bei erfolgreichen Autoren
etwas zu holen ist, der Schutz der Erben gewahrt. Für Bibliotheken hätte
dieses Verfahren den Vorteil, daß durch zentrale Registrierung Autoren mit langer
Schutzzeit leicht zu ermitteln sind. Aber das ist Zukunftsmusik, bis dahin
muß es wohl leider "quick and dirty" zugehen. Oder man digitalisiert nur noch
bis 1850.
Soviel zum Urherberrecht in der Informationsgesellschaft. ;-)

Grüße aus Thüringen
Eric Steinhauer
http://www.steinhauer-home.de


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