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Re: Bibliothekare und Bertolt Brecht zur RSR



Lieber Herr Umstätter,

nun gut, Sie scheinen mir zunächst zuzustimmen, wenn Sie schreiben:

> Ihre Aussage: "Evolution hingegen ist der großangelegte
> Versuch, ohne Zielursachen und also gänzlich ohne Teleologie auszukommen."
> gibt die Bemühungen in der Biologie richtig wieder. Man geht nicht von
> einer Zielgerichteten
> Evolution im Sinne einer Teleologie aus, obwohl auch dies im Sinne einer
> Teleonomie etc.
> immer wieder hinterfragt werden muss, und auch hinterfragt wird.

Dann aber schreiben Sie am Ende Ihrer Mail doch wieder:

> Ihr scheinbar logischer Schluss, "die Evolution kann gar keine
> "Strategie" haben, eben weil sie nicht teleologisch ist".
> Ist leider falsch. Die Evolution muss eine "Strategie" haben, eben weil
> sie nicht im Sinne der Griechen
> teleologisch sondern wahrscheinlichkeitstheoretisch bedingt ist, und
> stufenweise (über gradualness, wie es Darwin nannte)
> höhere Lebewesen hervorgebracht hat.

Das Argument lautet also, wenn ich Sie recht verstehe: Es ist richtig,
daß Evolution nicht-teleologisch ist, aber sie hat dennoch eine
Strategie, weil sie auf wahrscheinlichkeitstheoretischer Basis
teleologisch ist. Ich bin weder Biologe noch Mathematiker und habe
mich daher mit Wahrscheinlichkeitstheorie noch nicht beschäftigt; aber
soviel ist doch auch einem Nichtbiologen und Nichtmathematiker klar:
Wahrscheinlichkeit meint die Möglichkeit des Auftretens eines
Ereignisses, mehr nicht; ob die möglichen Ereignisse dann auch
wirklich eintreten, läßt sich wahrscheinlichkeitstheoretisch niemals
bestimmen. Daher kann auch eine wahrscheinlichkeitstheoretisch
durchdeklinierte Evolution keine "Strategie" haben, auch keine in
Anführungszeichen, denn das hieße, über ihre Zielrichtung eine Aussage
zu machen und also von der Möglichkeit auf die Wirklichkeit zu
interpolieren. Das soll mir mal jemand vormachen, ohne mir was dabei
vorzumachen...

Mein "scheinbar logischer Schluß" ist daher kein scheinbarer logischer
Schluß, sondern ein echter logischer Schluß: entweder Evolution als
natürlicher Prozeß ohne Bewußtsein, oder Bewußtsein und also
zielgerichtetes Handeln. Ich kann nur vermuten, daß ein Teil der
Verwirrung daher kommt, daß der Mensch natürlich sowohl ein
natürliches Lebewesen und damit der Evolution unterliegend als auch
ein bewußt handelndes Lebewesen und damit sich selbst auf eine Zukunft
hin entwerfend ist. Wobei die Pointe doch wohl darin liegt, daß durch
das Bewußtsein der Mensch in die Lage versetzt ist, seine eigene
Naturgeschichte und Naturgeschichte insgesamt als seine Vorgeschichte
in seine Zukunftsentwürfe zu integrieren und daher "Evolution" hinter
sich zu lassen. Deshalb gibt es eben auch "Strategie", übrigens ein
militärtechnischer Begriff, der ganz gut ist, weil er den Angriff des
Menschen auf seine eigenen Naturverhältnisse bezeichnet.

> Ihre äußerst verwegene Behauptung, die Rechtschreibreform sei ein Vorgang,
> "der mit Evolution nicht das geringste ... zu tun hat." vernachlässigt
> die Tatsache, wie weit Sprache im Menschen
> genetisch verankert ist. Es ist unzweifelhaft, dass die
> Rechtschreibreform sehr viel mit Sprachgefühl zu tun hat.

Warum das verwegen sein soll, weiß ich nicht, es sei denn, sie
deduzierten das ß im allgemeinen oder das neue ä in "Stängel" (statt
"Stengel") als einen besonderen evolutionsstrategischen Zug. Solange
Sie das nicht können (und Sie werden es nicht können), bleibt das ß
und das ä und alles andere sehr leicht erklärbar als Effekt bestimmter
sprachpolitischer Entscheidungen bestimmter Entscheidungsträger, deren
Gründe und Argumente man kennt, anerkennt oder ablehnt. Das
widerstreitet natürlich nicht der Anerkennung der Tatsache, daß
Sprache beim Menschen zu seiner natürlichen Ausstattung gehört.

> Wie ich sehe begrenzt Ihre Spracherfahrung das Wort Revolution auf die
> Politik(wissenschaft), weil  Sie es mit
> "zielgeleitetem Handeln" verbinden. Haben Sie sich aber schon einmal
> gefragt, wie stark Revolutionen, Kämpfe zwischen Parteien,
> Gruppen, Horden, Menschen oder Tieren, wirklich bewusste
> Auseinandersetzungen sind.
> Verhaltensforscher und Philosophen diskutieren z.Z. gerade auf der Basis
> des Libet-Experiments,
> ob es einen freien Willen des Menschen überhaupt geben kann.

Diese Debatte ist natürlich uralt; und die Diskussionslinie ist die,
die oben schon erwähnt ist: die Tatsache, daß etwas dem Menschen durch
seine Natur vorgegeben ist, bedeutet eben nicht, daß wir nun auch
gezwungen wären, nur dieser Vorgabe zu folgen (sei diese nun rein
kausal oder wahrscheinlichkeitstheoretisch oder sonstwie nach der
neuesten naturwissenschaftlichen Theoriemode gemodelt); vielmehr
wissen wir alle ja, daß wir frei sind, uns zu bestimmten Handlungen zu
entscheiden oder sie zu unterlassen, und wir können über die
Dimensionen dessen, was wir wollen oder nicht, frei reflektieren. Der
Horizont solcher Reflexionen ist das, was man Wahrheit nennt: sie
bestimmt, ob jemand im Recht ist oder nicht, sei es im Denken, sei es
im Handeln. Das von Ihnen beigezogene genetische Argument trifft
dagegen nur die Genese von Ereignissen, nicht deren Geltung. Wir
debattierten hier aber ursprünglich über die Geltung der
Rechtschreibreform (also über die beigezogenen Begründungen), nicht
über deren Genese durch möglicherweise genetisch bedingte niedrige
Hormonspiegel ihrer Befürworter.

> Wenn Sie einem Biologen, der sich seit über drei Jahrzehnten mit
> Evolutionsstrategien und mit der damit verbundenen
> Selbstorganisation von Wissen beschäftigt, schreiben, er rede "nicht
> mehr von Evolution, sondern von etwas anderem."
> dann sollten Sie das möglicherweise überdenken.

Das ist kein Argument, sondern ein Statement ex auctoritate. Demnach
müßte die Länge der Beschäftigung mit etwas dann auch die Triftigkeit
der gemachten Aussagen legitimieren. Das ist natürlich falsch. Was ich
Ihnen vorgehalten habe, war schlicht dies: daß Sie die Begriffe
"Evolution" und "Revolution" nicht klar voneinander abgrenzen. Das
haben Sie auch in Ihrer Entgegnung nicht getan.

Schöne Grüße,

Uwe Jochum


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