[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

[InetBib] Fwd:: Soll "Mein Kampf" jetzt in die Stadtbücherei?



Liebe Kollegen und Kolleginnen,

ich möchte mich in der Diskussion um die kommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" auch zu Wort melden, weil es darin über die Einzelentscheidung hinaus um die sehr viel grundsätzlichere Frage des Bestandsaufbaus und -angebots in öffentlichen Bibliotheken geht und um die gesellschaftliche Verantwortung
der in öffentlichem Auftrag arbeitenden Bibliotheken und ihres Personals.

Es ist ein Trauerspiel, dass die öffentlichen Bibliotheken von der Politik (und auch von einigen Koryphäen der Bibliothekswissenschaft) seit über zwanzig Jahren massiv unter Druck gesetzt werden, den Beweis ihrer Daseinsberechtigung überwiegend in rein quantitativen (Ausleih-) Ergebnissen und in einem verkürztem Effizienzdenken zu sehen und nicht in der Qualität ihrer Angebote und ihrer Vermittlungsarbeit. Ein besonders perfides Druckmittel und Rationalisierungsinstrument der politisch Verantwortlichen ist dabei die sogenannte Kosten-Leistungs-Rechnung, die - anstatt konstruktiver Fördermaßnahmen - die öffentlichen Bibliotheken in eine widersinnige Konkurrenzsituation gegeneinander treibt und letztlich jede Bibliothek mit weiterem Abstieg bedroht, weil bei der Jagd nach den immer etwas besseren
Ausleihzahlen letztlich keine gewinnen kann.

Angesichts jahrzehntelang bestehender Unterfinanzierung, zu geringer Personalausstattung und nicht vorhandener Förderpläne oder Bibliotheksgesetzen, die auch Finanzierungsverpflichtungen beinhalten, führte das zu dem dramatischen Bibliothekssterben in der ganzen Republik (in Berlin wurdenseit Anfang der 90er Jahre Zweidrittel der öffentlichen Bibliotheksstandorte geschlossen) und zu Rationalisierungsstrategien wie den Standing-Order-Bestellungen und Bestseller-Abonnements. Auch wenn der Druck dazu häufig von oben ausging, akzeptieren und rechtfertigen auch allzu viele KollegInnen den Umstieg von einem selbst verantwortetem und an den konkkreten Interessen des Umfeldes orientiertem Bestandsaufbau hin zu Standing-Order und Bestseller-Abos, immer mit dem Blick darauf, was am meisten Personal spart
und die höchsten Ausleihzahlen geriert.

Die KollegInnen selbst, aber insbesondere auch die politisch und in der Leitungsebene Verantwortllichen vergessen dabei, dass sie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung für die inhaltliche Qualität der öffentlichen Bibliotheksarbeit nicht mehr gerecht werden, denn diese sollte anderen Kriterien genügen als bei rein kommerziellen Einrichtungen, und dass sie stückweise den Berufsstand selbst abschaffen. Wer braucht noch teuer ausgebildete BibliothekarInnen, wenn diese über die anzuschaffenden Medien nicht mehr selber entscheiden können und über das automatisch Angelieferte nicht mehr genauer Bescheid wissen? Eine weitere Folge dieser Art von Effizienzdenken (und zum Teil professoraler Handlungsanweisungen!) ist die Wegwerf-Mentalität gegenüber erheblichen Teilen des bereits aus Steuergeldern angeschafften und über viele Jahre bewahrten Bestandes in öffentlichen Bibliotheken. Was nicht mindestens in zwei oder drei Jahren einmal ausgeliehen wurde, wird der Vernichtung oder zumindest Aussonderung anheim gegeben, selbst wenn es sich um regionalkundliche Literatur, Standardwerke oder wertvolle Kunstbände handelt. Es wird noch nicht einmal in Betracht gezogen, dass diese Bände vielleicht vor Ort genutzt wurden oder in der ganzen Stadt kaum noch vorhanden sind. Wenn das automatische Ausleihsystem keine Ausleihe registriert hat - weg damit.

So sehr ich mich über klare Statements bei der Diskussion um die gesellschaftliche Verantwortung des Bibliothekars/der BibliothekarIn freue, denke ich doch, dass man vor der allzu schnellen und ruppigen Verurteilung von Meinungsäußerungen, z.B. der Kollegin aus Ahlen, verstehen sollte, vor welchem Hintergrund diese Haltung entstanden ist.

Ich wünsche mir mehr gemeinsames, ÖB und WB übergreifendes Engagement, in der Mailingliste, in den Gewerkschaften und Berufsverbänden, für die Unterstützung der öffentlichen Bibliotheken und für Bibliotheksgesetze, die diesen Namen verdienen, weil sie wirkliche Bibliothekspflicht- und -fördergesetze für alle Teile des Bibliothekswesens sind.

Mit kollegialen und kritischen Grüßen,
Frauke Mahrt-Thomsen

Stadtbibliothek Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin (i.R.)
Arbeitskreis Kritische Bibliothek
www.kribiblio.de






-------- Weitergeleitete Nachricht --------
Betreff:        Re: [InetBib] Soll "Mein Kampf" jetzt in die Stadtbücherei?
Datum:  Tue, 12 Jan 2016 16:41:27 +0100
Von:    Peter Delin <peter.delin@xxxxxx>
An:     inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx



Lieber Herr Günther,
das mit der Verflachungsspirale ist ganz einfach zu verstehen: Wenn Sie einen vorwiegend bestseller-orientierten oder besser gesagt rein effizienzorientierten, allein an Ausleihzahlen orientierten Bestandsaufbau machen, hat das Publikum nur noch eine geringe Chance, Neues oder Unbekanntes zu entdecken. Solche Bücher haben dann keine Chance mehr, Ausleihzahlen zu generieren, d. h. einen vorhandenen Bedarf zu signalisieren und einen legitimen Platz im Bestand zu finden. Diese Frage berührt also elementar die Aufgabe und Legitimation einer öffentlichen, nicht kommerziellen, aus Steuermitteln der Allgemeinheit finanzierten Bibliothek. Konkret auf einzelne Titel bezogen stellt sich diese Frage selbstverständlich unterschiedlich je nach Profil und Größe der Bibliothek. Die kommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" bei der aktuellen breiten öffentlichen Diskussion in wissenschafliche Bibliotheken zu verbannen, verkennt zweifelslos einen wichtigen Teil der Aufgaben einer öffentlichen Bibliothek und kann selbstverständlich nicht akzeptiert werden. Herr Graf hat übrigens berechtigterweise schon in seiner ersten Mail auf das verfehlte Bestseller-Argument als Begründung für seine Kritik abgehoben. Eine Bestsellerliste kann letztlich keine Begründung für die Aufnahme der kritischen Ausgabe von "Mein Kampf" in den Bestand einer öffentlichen Bibliothek sein. Mit besten Grüßen
Peter Delin
Peter Delin
Ringstraße 100
12203 Berlin

Tel.: 030/81305675
Mobil: 015787311689
Mail: peter.delin@xxxxxx
https://dvdbiblog.wordpress.com/
Gesendet: Dienstag, 12. Januar 2016 um 16:01 Uhr
Von: "Robert Günther" <guenther@xxxxxxxxxxx>
An: inetbib@xxxxxxxxxx
Betreff: Re: [InetBib] Soll "Mein Kampf" jetzt in die Stadtbücherei?

Am 12.01.2016 um 15:17 schrieb Klaus Graf:
On Tue, 12 Jan 2016 14:23:49 +0100
Josef Wandeler <wandeler@xxxxxxxxxx> wrote:
Lieber Herr Pietsch

Ich bin durchaus Ihrer Meinung, dass Links statt einem
längeren Text sinnvoll sind. Und natürlich habe ich den
Blogeintrag gelesen und ebenso die beiden Texte, auf die
dort verwiesen wird.
Was mir gefehlt dabei: eine sinnvolle Begründung, warum
es "erbärmlich" sein soll, wenn eine Stadtbücherei ein
sehr schwierig zu lesendes Buch nur dann in den Bestand
aufnimmt, wenn es tatsächlich nachgefragt wird.
Darüber kann und soll man durchaus diskutieren, nicht
einfach mit dem verbalen Vorschlaghammer durch die Gegend
ziehen.
Tut mir leid, wenn ich Sie ueberfordere. Denkende Menschen
sind durchaus in der Lage, auch ohne lange Vorgaben
meinerseits ueber das Problem zu reflektieren, was es
bedeutet, wenn sich eine Stadtbuecherei weigert, eine sich
bewusst auch an Laien wendende wissenschaftliche Ausgabe
eines Buchs anzuschaffen, das ab 1933 wohl in jeder
oeffentlichen Buecherei womoeglich in mehreren Exemplaren
vertreten war. Es war eines der unheilvollsten Buecher des
20. Jahrhunderts. Die Ausgabe ist derzeit fester
Bestandteil der Feuilleton-"Blase". Aber die ist womoeglich
auch fuer oeffentliche Bibliotheken zu hoch.

Vermutlich ist Ihnen der Begriff "Verflachungsspirale" kein
Begriff, aber anderen sagt er sicher etwas. Zwischen der
Bibliothek als moralischer Anstalt und einer niveaulosen
Bestseller-Sammlung gibt es eine Menge von Zwischentoenen,
aber es ist mein gutes Recht als Historiker, die Haltung
dieser westfaelischen Bibliothekarin erbaermlich
geschichtsvergessen zu finden.

Und mir leuchtet es als Nicht-Bibliothekar ueberhaupt nicht
ein, wieso das Bibliothekswesen mehr und mehr
auseinanderdriftet: in den Bereich der wissenschaftlichen
und Spezial-Bibliotheken und einem zunehmend niveau- und
orientierungslosen

http://esteinhauer.tumblr.com/post/137013877060/nennt-es-nicht-bibliothek[http://esteinhauer.tumblr.com/post/137013877060/nennt-es-nicht-bibliothek]

Bereich der oeffentlichen Bibliotheken, der uebrigens hier
in INETBIB kaum mehr vorkommt.

Klaus Graf
Liebe Liste.

ich muss gestehen, dass mir das kein Begriff ist.
Was ist die "Verflachungsspirale"?


--
Dr. Robert Günther




Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.