[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Re: [InetBib] Grundsatzfragen zur aktuellen Wissenschafts-Debatte



Liebe Frau Guntermann,

das Problem dass Sie ansprechen, wird ja schon seit Jahrhunderten (s. Leibniz www.wissenschaftsforschung.de/JB00_179-200.pdf) beklagt. Es ist aber weniger eine Frage der Publikations „-wut“, als des Wissenschaftswachstums. Wenn sich sowohl die Zahl an wissenschaftlichen Publikationen als auch die an Wissenschaftlern seit Jahrhunderten konstant alle 20 Jahre Verdoppelt, dann produzieren Wissenschaftler/innen schon immer durchschnittlich eine Publikation pro Jahr, mit der sie sozusagen belegen, wofür sie im letzten Jahr bezahlt wurden. Übrigens – da sich die Menschheit nur in etwa 50 Jahren verdoppelt, kann man ausrechnen, wann es auf dieser Erde nur noch Wissenschaftler geben wird (www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/price14.html).

Eigentlich hätte da die Big Science längst zusammenbrechen müssen, wenn nicht einerseits die Online-Revolution mit dem Weinberg Report 1963, und damit die Digitaliseirung, uns gerettet hätte, und andererseits das Bradford's Law of Scattering uns gezeigt hätte, wie Interdisziplinarität (www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/lectg.html) und Arbeitsteilung in der Wissenschaft funktioniert. Kürzer gesagt, Wissenschaftler spezialisieren sich zwangsläufig immer mehr.

Ein wirkliches Problem sehe ich aber darin, dass nun im Open-Access-Bereich immer mehr Verlage nach zahlungskräftigen Autoren suchen, die nicht selten dazu gezwungen sind zu zahlen, um im publish-or-perish nicht zurück zu fallen. Ich bekomme jedenfalls fast täglich Anfragen von Zeitschriften, die für article publication charges (APC) Aufsätze einwerben, von denen etliche auch noch hijacked sind.

Ansonsten haben Sie völlig Recht, hier ist etwas aus dem Ruder gelaufen, weil im Überlebenskampf der Verlage, diese die Bibliotheken im digitalen Bereich enteignen ließen, und damit war für die Digitale Bibliothek Schluss mit lustig.

Nach den letzten Diskussionen über den Referentenentwurf zur E-Leihe habe ich endlich verstanden, warum Bibliotheken E-Books gar nicht käuflich erwerben können – weil sie kein Kulturgut sind! Anderenfalls würde ja die reduzierte Mehrwertsteuer gelten. Jetzt müsste man nur noch klären, ob damit alle elektronischen Dokumente, soweit sie nicht an einen Informationsträger gebunden sind, zu Schund und Talmi zu rechnen sind ;-) Man erinnert sich, das war das, wogegen der Schutzverband deutscher Schriftsteller www.theodor-heuss-haus.de/theodor-heuss/weimarer-republik/ einst gekämpft hat.

MfG
Walther Umstätter



Am 2017-03-10 16:04, schrieb Oliver Hinte via InetBib:
Liebe Frau Guntermann,

das sind noble Fragen, die Sie stellen, allerdings sehe ich
kurzfristig keine Lösung für diese Themen.

Daher frage ich
mich, ob es nicht sinnvoll wäre, dass die Wissensschaft ihre eigene Situation
dahingehend einmal genauer hinterfragt?
Das Problem der Publiaktionsflut und -wut existiert unstreitig.
Allerdings bemisst sich das Renommee in der Wissenschaft

häufig anhand der Anzahl der veröffentlichen Publikationen. Dies zu
ändern wird schwierig sein.

Ebenso überlege ich, ob nicht auch einige (Wissenschafts-)Verlage, die von dieser Publikationsflut profitieren, ihre Vorgehensweise im Hinblick auf
"Fairen Handel" überdenken sollten.
Dies bleibt im Verdrängungswettbewerb des Publikationswesens leider
auch nur ein frommer Wunsch.

Und schließlich
Ich denke, dass die genannten Parteien eine
Symbiose bilden sollten und habe aber derzeit das Gefühl, dass es aus dem Ruder
läuft.
Da gebe ich Ihnen ebenfalls Recht, allerdings wird dies nur
funktionieren, wenn nicht mit falschen
oder unvollständigen Informationen operiert wird, siehe
www.publikationsfreiheit.de

Mit freundlichen Grüßen
Oliver Hinte


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.