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[InetBib] Benennung des Bibliothekartags (ja, schon wieder, sorry)



Liebe Kollegen (m/w/d),


trotz der Gefahr, dass die Liste wieder explodiert und unser aller
Mailkonten überflutet werden, würde ich dennoch einige Gedanken zur
möglichen Umbenennung des Bibliothekartages loswerden.


Ich hoffe, die Diskussion damit auf ein Level zu heben, dass etwas höher
liegt als „Was interessiert mich die Meinung eines ‚alten, weißen Mannes‘?
Sie sind ja hoffentlich sowieso bald tot!“ oder – auf der anderen Seite –
„Wer weder Latinum noch Doktorgrad hat, sollte gar nicht erst wagen, mit
mir zu diskutieren!“ (Sorry, diese kleinen Spitzen mussten einfach sein.)


Zunächst einmal: ich – und vermutlich auch die meisten anderen Gegner der
Umbenennung – haben grundsätzlich kein Problem mit Namen wie
„Bibliothekstag“, „Bibliothekskonferenz“ oder „Tag der Bibliotheken im
deutschsprachigen Raum“. (Vorschläge wie „Kongress der Bibliotheksmenschen“
oder „Tagung der Bibliothekswesen“ finde ich allerdings sehr infantil.)


Was ich an der Namensdiskussion bemängele, ist, dass die Befürworter der
Umbenennung suggerieren, der Name „Bibliothekartag“ sei so reaktionär, so
diskriminierend, dass eine Umbenennung unumgänglich ist, will man nicht den
Eindruck erwecken, unsere Konferenz wäre eigentlich der Bundesparteitag der
AfD (oder noch Schlimmeres).


Im Folgenden werde ich darlegen, warum man damit dem viel-gescholtenen
generischen Maskulinum Unrecht tut und worin ich die Bedeutung dieses
„Stellvertreterkrieges“ (denn nichts Anderes ist der Streit über die
Umbenennung ja letztendlich) für die Zukunft des Bibliothekswesens
allgemein sehe.


Davor aber noch ein paar Anmerkungen zu einem Aspekt, der in der Diskussion
bisher immer untergegangen ist: Ein weiteres Argument für die Umbenennung
des Bibliothekartags war, dass sich angeblich sowohl FaMIs als auch
Mitarbeiter, die nicht direkt bibliothekarisch tätig sind (IT, Verwaltung,
Buchbinder etc.), vom bisherigen Namen ausgeschlossen fühlten.


1. Ich arbeite noch nicht allzu viele Jahre im Bibliothekswesen, aber
meiner bisherigen Erfahrung nach sehen sich die meisten FaMIs als
Bibliothekare (als was auch sonst?) und werden auch von den den
allermeisten anderen Bibliothekaren so gesehen. Und die kleine Minderheit,
die anderer Meinung ist, würde sich auch von einem „Treffen der
Bibliotheksmenschen“ oder einer „Spielwiese der Bibliothekswesen“ nicht
umstimmen lassen.


2. Allerdings gibt es selbstverständlich Leute, die alle, die unter ihrer
eigenen Gehaltsstufe arbeiten oder nicht promoviert sind oder nicht
studiert haben, von oben herab behandeln. Und auch hier wieder: glaubt hier
wirklich irgendwer, dass die Umbenennung einer Konferenz elitären
Wichtigtuern (m/w/d) Vernunft beibringt?


3. Nun zu den echten Nicht-Bibliothekaren: Welchen Vorteil hätte hier eine
Umbenennung des Bibliothekartags in z.B. Bibliothekstag oder in
„Tagung-für-alle,-die-irgendwie-in-Bibliotheken-arbeiten“? Folgt man dieser
Logik, müssten dann sofort Beschwerden eingehen wie „Aber ich arbeite doch
in gar keiner Bibliothek, sondern in einem Archiv/einer
Gedächtniseinrichtung – bin ich also ausgeladen!?“ Wie oft müssten wir den
Bibliothekartag noch umbenennen, um auch wirklich jeder linguistischen
Haarspalterei Rechnung zu tragen? Womit wir wieder beim Gendern wären.



*1) Sprache schafft Wirklichkeit?*


Bei den Kommentaren zur Petition, in der die Umbenennung des
Bibliothekartags gefordert wird, herrschen zwei Pro-Argumente vor:


(I) Sprache schafft Wirklichkeit: Das generische Maskulinum macht Frauen
(und Menschen, die sich anderen Geschlechtern zugehörig fühlen) unsichtbar
und deswegen kommen viele Frauen gar nicht auf die Idee oder trauen sich
nicht, irgendwo zu arbeiten oder vorzutragen, wo ein generisches Maskulinum
im Titel steht. Damit diese zarten, hilflosen Geschöpfe den Weg zum
Bibliothekartag finden, muss er zwingend umbenannt werden.


(II) Sprache muss die Wirklichkeit 1:1 abbilden: Es gibt so viele Frauen im
Bibliothekswesen und auf dem Bibliothekartag, dass man im Titel der
Veranstaltung noch einmal explizit auf sie hinweisen muss.


(Ich hoffe, Sie stimmen mir zu, dass die Kombination dieser beiden
Argumente recht witzig ist.)


Zuerst zur Frage, ob Sprache Wirklichkeit schafft, wie es in Diskussionen
zum Gendern häufig behauptet wird. Es gibt empirische Studien, die zeigen,
dass Probanden bei Sätzen, in denen das generische Maskulinum verwendet
wird, durchschnittlich im ersten Moment eher an Männer als an Frauen (ganz
zu schweigen von irgendwelchen anderen Geschlechtern) denken.


Aber es gibt viele Gründe, warum das dennoch nicht bedeutet, dass Sprache
Wirklichkeit schafft:


a. Es gibt Länder, in denen weitestgehend geschlechtsneutrale Sprachen
gesprochen werden (z.B. in der Türkei oder im Iran) und in denen es mit der
Gleichberechtigung dennoch sehr düster aussieht.


b. Dann wiederum gibt es Regionen (z.B. Großbritannien), wo ebenfalls eine
mehr oder weniger geschlechtsneutrale Sprache gesprochen wird und wo der
Grad an Gleichberechtigung so gut wie identisch mit dem in Deutschland ist,
wo außerhalb von Universitäten und einigen Teilen der Medienwelt noch immer
das böse generische Maskulinum vorherrscht. (Im Englischen gibt es
natürlich ein paar Ausnahmen (z.B. emperor vs. empress). Allerdings werden
die wenigen noch existierenden weiblichen Formen (z.B. actress) der
Gleichberechtigung wegen (!) immer mehr aus dem Sprachgebrauch verdrängt.
So kann es auch gehen… Quelle:
https://msmagazine.com/2021/12/28/actor-actress-gender-language-word-choice/
)


c. Die Tatsache, dass viele, die das generische Maskulinum hören/lesen,
unbewusst für eine Millisekunde stärker an Männer als an Frauen denken, hat
so gut wie keine Auswirkungen auf unsere Weltsicht oder die Entscheidungen,
die wir bewusst treffen. Nehmen wir z.B. ein generisches Maskulinum, das
allgegenwärtig ist: Arzt. Ob „Ärztekammer“, „Arztroman“, „Ich muss zum
Arzt“, „9 von 10 Zahnärzten empfehlen…“ oder „Zu Risiken und
Nebenwirkungen, fragen Sie Ihren Arzt…“ – überall nur generische Maskulina.
Und trotzdem gibt es seit Jahren deutlich (!) mehr weibliche als männliche
Medizinstudenten (Quelle:
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/200758/umfrage/entwicklung-der-anzahl-der-medizinstudenten/).



d. Die Tatsache, dass Sprache keine Wirklichkeit schafft, begegnet uns im
Alltag nicht nur bei Genderfragen.  Man denke nur an das viel-veralberte
„Gute-Kita-Gesetz“ oder aber an Putins Beteuerung, er würde die Ukraine
„entnazifizieren“. Auch war die Losung 1989 „Die Mauer muss weg!“ und nicht
– wie es die Sprachvorschriften der DDR gefordert hätten – „Hey, lasst bloß
unseren antifaschistischen Schutzwall in Ruhe!“


Ich kann das Wunschdenken „Sprache schafft Wirklichkeit“ ja durchaus
verstehen. Angesichts all der Probleme auf der Welt fühlt man sich
machtlos. Und es tut gut, sich einzureden, dass man die Welt zum Besseren
verändert, wenn man ein paar Asteriske und Doppelpunkte in seine Texte
streut. Glauben Sie mir: wenn niemand mehr im Mittelmeer ertrinken müsste,
wenn ich anfinge, Leute auf Twitter als Rechtsradikale zu beschimpfen, weil
sie „Flüchtlinge“ anstatt „Geflüchtete“ sagen, würde ich es tun. Aber so
einfach ist die Welt nicht und es macht keinen Sinn, Kraft in linguistische
Grabenkämpfe zu stecken, wenn man in der Zeit auch etwas wirklich
Sinnvolles machen könnte.


Jetzt aber weiter zum zweiten Argument, nämlich dem, dass (gerechte)
Sprache die Wirklichkeit mehr oder weniger exakt abbilden muss.



*2) Ambiguitätstoleranz und sprachliche Ökonomie*


Natürliche Sprache folgt der Maxime der Relevanz (so beschrieben von Paul
Grice, Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Cooperative_principle). Wir
wollen mit möglichst wenig Aufwand (für uns und unsere Leser/Zuhörer)
möglichst viel sagen – und zwar so, dass der Gesprächspartner sofort
versteht, worum es in der Äußerung gehen soll.


Beispielsweise würden wir sagen „Ich fliege bald nach Rom“ und nicht „Ich
lasse mich bald als Passagier mit einem Linienflugzeug nach Rom in Italien
fliegen“, weil alle Zusatzinformationen, die im zweiten Satz genannt
werden, ohnehin schon in unserem Weltwissen verankert sind. (Würden wir
allerdings als Pilot mit unserem eigenen Zeppelin nach Rom fliegen, müssten
wir diese Informationen geben, weil es in diesem Fall mehr Aufwand bedeuten
würde, später das Missverständnis aufzuklären, als jetzt mehr zu sagen.)


Nun noch ein gegendertes (und überspitztes) Beispiel dazu:

„Auf der A1 ist ein Geisterfahrer unterwegs. Alle Autofahrer sollen
vorsichtig sein.“ - Der Fokus liegt auf der Gefahr und der
Handlungsanweisung.

„Auf der A1 ist ein*e Geisterfahrer*in unterwegs. Alle Autofahrer*innen
sollen vorsichtig sein.“ - Der Fokus liegt auf der gegenderten Sprache;
nicht auf der Aussage des Satzes an sich. Die 1-2 Sekunden, die die
gegenderte Nachricht länger braucht, können in dieser Situation über Leben
und Tod entscheiden.


Die Frage muss jetzt sein: ergibt sich aus gegenderter Sprache ein so
großer Mehrwert, dass der Mehraufwand, der dafür geleistet werden muss,
gerechtfertigt ist?


Nein, weil (1) – wie oben beschrieben – gegenderte Sprache keine reellen
Vorteile für Frauen (und Menschen, die sich irgendwelchen anderen
Geschlechtern zugehörig fühlen) bringt, und (2) weil die
Zusatzinformationen, die gegenderte Sprache liefern soll (d.h. dass es
Frauen und Diverse gibt), ohnehin in unserem Weltwissen verankert sind.


Es hat also absolut keinen Mehrwert, den Satz „Wir Bibliothekare haben den
schönsten Beruf der Welt“ zu gendern zu „Wir Bibliothekar*innen haben den
schönsten Beruf der Welt“. Die Zusatzinformation („auch Frauen arbeiten in
Bibliotheken“) verletzt schlichtweg die Maxime der Relevanz, weil diese
Information Teil unseres Weltwissens ist.


(Hätten wir jetzt einen Beruf, in dem fast ausschließlich Männer arbeiten,
– beispielsweise im Gerüstbau – und wollten betonen, dass es hier auch
Frauen gibt, würde ein einziges Interview mit einer Frau in einer
Branchenzeitung, ein einziges Werbeplakat von „Gerüstbau Annika Weber“ mehr
erreichen als 10.000 Gendersternchen.)


Die weitgehende Streichung von „Fräulein“ aus unserem Wortschatz – die oft
fälschlicherweise mit dem Gendern verglichen wird – ist auch eine Folge der
Sprachökonomie. Es bedeutet einen erheblichen Mehraufwand, zwischen Frau
und Fräulein zu unterscheiden (man muss erst einmal herausfinden, was davon
zutrifft; man muss die Informationen anpassen, wenn das Fräulein zur Frau
wird; es besteht immer die Gefahr, einen Fauxpas zu begehen etc.)
rechtfertigen nicht den sehr geringen Mehrwert, den diese Information hat.
Durch die Streichung des Fräuleins wurde die deutsche Sprache einfacher,
durch das Gendern wird sie komplizierter. Ersteres folgt der Maxime der
Relevanz, letzteres verletzt sie.


*3) Gendern – für wen eigentlich?*


Wenn gegenderte Sprache die Wirklichkeit nicht ändert und unsere
Kommunikation erheblich erschwert, warum ist sie dann in manchen Kreisen so
populär?

Weil sie trotz allem einen Mehrwert hat, der aber hauptsächlich den
Sprechern/Schreibern zugutekommt. Gegenderte Sprache ist ein
Distinktionsmerkmal. Sie zeigt an, dass man zu einer geistigen Elite und zu
den politisch „Guten“ gehört.


(Vorsicht, jetzt wird’s a bisserl polemisch)


Da stört es auch nicht, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung das
Gendern ablehnt. Das gilt für Frauen UND Männer und für die Anhänger aller
Parteien (ja, auch Linke und SPD) außer der Grünen (s. Quellen ganz unten).
Im Gegenteil: würden die ganzen „reaktionären Dorftrottel“ auf einmal
anfangen zu gendern, müsste man schnell einen anderen Weg finden, um sich
weiterhin abheben zu können. Anzeichen dafür gibt es bereits bei den
Befürwortern des Genderns: Die Doppelnennung ist in manchen Kreisen
mittlerweile so verpönt wie das generische Maskulinum, und auch das
Binnen-I gerät zunehmend unter Verdacht (beispielsweise hier an der TU
Dresden:
https://tu-dresden.de/gsw/slk/germanistik/mwndl/ressourcen/dateien/studium/Gendersensible_Sprache_Professur_neu.pdf?lang=de).
Wer zur Spitze gehören will, verwendet Asterisk oder Doppelpunkt – man muss
aber aufpassen, dass man keine Neuentwicklungen verpasst (der Trend geht
momentan offenbar zu ï, • und einem nicht-hochgestellten *), sonst ist man
schnell wieder Teil der Ewiggestrigen. (Vielleicht werde ich bald anfangen,
wie Prof.ens Lann Hornscheidt zu gendern und bezeichne dann alle, die
weiterhin bei Asterisk und Doppelpunkt bleiben wollen, als Rechtsextreme….)


/Polemik_Ende


Ich möchte an dieser Stelle aber auch betonen, dass ich den
Gender-Befürwortern keine bösen Motive unterstelle. Niemand setzt sich hin
und sagt: „So, jetzt gendere ich mal, damit alle sehen, wie überlegen ich
dem gemeinen Pöbel bin“. Nein, das Gendern ist in den meisten Fällen
wirklich ein Versuch, inklusiv zu sein. Vielleicht hat man mal einen
Vortrag zu „geschlechtergerechter“ Sprache gehört und die Vorschläge dann
in guter Absicht ins eigene Repertoire übernommen. Vielleicht schämt man
sich nach zu viel Twitterkonsum, ein „alter (oder junger), weißer,
heterosexueller cis-Mann“ zu sein und möchte Leuten, die man für
unterdrückt hält, zeigen, dass man zu den „Guten“ gehört und ein
„Verbündeter/Ally“ ist. Vielleicht macht man mit, weil alle Kollegen
gendern. Vielleicht ist man insgeheim auch ein bisschen skeptisch, was das
Gendern betrifft, möchte aber auf keinen Fall als rechts dastehen.


Allen guten Absichten zum Trotz bewirkt Gendern dennoch oft das Gegenteil
von Inklusion: Wenn wir als Bibliotheken gendern, signalisieren wir einem
Großteil der Bevölkerung, dass wir sie für rückständig und ihre Sprache für
diskriminierend halten. Dass unser Selbstverständnis darin besteht, als
(selbsternannte) geistige Elite ausschließlich anderen Teilen einer
(selbsternannten) geistigen Elite zu dienen. (Mal abgesehen davon, dass
viele Legastheniker, Nicht-Muttersprachler und Sehbehinderte Probleme
haben, gegenderte Sprache zu verstehen.)


Für Leute ohne akademischen Hintergrund ist der Besuch einer
Universitätsbibliothek oder gar einer Forschungsbibliothek mit einer
beachtlichen Hemmschwelle verbunden. (Hier mal als „anecdotal evidence“:
ich komme aus einer „Arbeiterfamilie“ und habe am Anfang meines Studiums
die UB so gut es ging gemieden, weil ich immer das Gefühl hatte, dass
gleich jemand merkt, dass ich eigentlich nicht hierher gehöre, und mich
hochkant rauschmeißt.) Wenn man wunderschön gegenderte
„Bürger*innenprojekte“ und Veranstaltungen für „Stadtbenutzer:innen“
anbietet, kann man in den allermeisten Fällen davon ausgehen, dass man
damit nur Leute anspricht, die ohnehin die Bibliothek als ihr natürliches
Habitat ansehen. Inklusion Fehlanzeige.


Wir sind hier natürlich mit einem beachtlichen Dilemma konfrontiert:
Gendern wir, fühlt sich ein Teil der Bevölkerung ausgeschlossen. Gendern
wir nicht, ein anderer. Eine Lösung für dieses Problem gibt es bislang
nicht. Eine Möglichkeit könnte sein, zumindest auf Websites einfach eine
Auswahlmöglichkeit zu schaffen – dann kann jeder selbst entscheiden, ob er
die generische Form, die Doppelnennung, Asteriske, Doppelpunkte oder eben
die Hornscheidt’sche ens-Form sehen möchte. (Wenn Browser-Extensions wie
„Binnen-I-Be-Gone“ verschiedene Genderformen in die generische Form
umwandeln können, müsste es ja auch andersherum gehen.) Für Gedrucktes und
pdfs ist das natürlich immer noch keine Lösung.


Es sollte aber gelten: Egal, ob jemand nun gendert oder nicht, sollte man
davon ausgehen, dass er weder eine linke Kulturrevolution nach maoistischen
Vorbild noch einen rechten Zeitsprung zurück ins Mittelalter anstrebt. Er
ist einfach nur ein Autor (oder Sprecher), der nach bestem Wissen und
Gewissen handelt und lediglich eine anderes Sprachgefühl und eine andere
Prioritätensetzung hat, als man selbst.



*4) Kleiner Finger oder ganze Hand? *


(Keine Sorge, das ist der letzte Punkt. Danke an alle, die bis hierhin
dabeigeblieben sind.)


*Wow, so viel Text über die mögliche Umbenennung einer Konferenz, von deren
Existenz 99,9% unserer Bibliotheksbenutzer (und der deutschen
Gesamtbevölkerung) nichts wissen und auch nie erfahren werden. Hat die gute
Frau echt nichts Besseres zu tun?*


Die Diskussion über die Benennung des Bibliothekartags (und über das
Gendern allgemein) ist natürlich nur ein Symptom einer tiefergehenden
gesellschaftlichen Dynamik, die auch – besonders – die Bibliotheken nicht
verschont.


Viele aus der ‚Bibliotheksbubble‘ haben sich vor einigen Wochen –
vollkommen zu Recht! – sehr besorgt gezeigt über die Entscheidung des
(republikanisch geprägten) Schulausschusses von Tennessee, Art Spiegelmans
Comic „Maus“ aus dem Lehrplan zu streichen.


Keine Erwähnung fand hingegen die Entscheidung des (demokratisch geprägten)
Mukilteo School District (Washington), Harper Lees „To Kill a Mockingbird“
zu verbannen. Die Begründung des Ausschusses war, dass der Roman dieser
(weißen) Autorin nicht mehr den aktuellen Anforderungen an den
amerikanischen Rassismusdiskurs genügt  (Quelle:
https://crosscut.com/news/2022/01/kill-mockingbird-hot-seat-wa-school-district).



Zensur und ‘Cancel Culture’ von rechts UND von links sind eine Gefahr für
demokratische Gesellschaftsordnungen – besonders auch für Bibliotheken. Als
Einrichtungen, die das Wissen einer Gesellschaft bewahren und zugänglich
machen sollen, müssen wir aufpassen, dass unsere Verpflichtung der
Meinungsfreiheit gegenüber nicht dem Zeitgeist geopfert wird, wie es
momentan an so vielen Stellen in den USA geschieht. (Sowohl durch Rechte
als auch durch Linke – das Hufeisen lässt grüßen.)


An deutschen Universitäten und Bibliotheken sieht es (noch) nicht ganz so
düster aus. Aber auch hier gibt es illiberale Bestrebungen, die sich zum
Beispiel darin äußern, vollkommen harmlose (gar langweilige!) Namen von
Konferenzen wie dem Bibliothekartag ändern zu wollen. Wie gesagt, der Name
der Konferenz könnte mir nicht egaler sein, nennen Sie ihn von mir aus
„Bibliotheksgedöns“. Aber die Behauptung, dass eine solche Bezeichnung
geändert werden MUSS und dass jeder, der dagegen ist, irgendwo zwischen
rechts und rechtsextrem auf dem politischen Spektrum verordnet werden kann,
öffnet Tür und Tor für weitreichendere Umwälzungen in die „woke“ Richtung.
(Es soll sogar einige Menschen geben, die sich auf Twitter darüber
echauffieren, wenn Autoren in ihren Forschungsartikeln nicht gendern, und
dann darüber spekulieren, ob die jeweiligen Autoren nur aus Ignoranz nicht
gendern, oder ob es daran liegt, dass sie eben schlechte Menschen sind. Ich
glaube nicht, dass man mit solchen moralischen Überlegenheitsgesten seiner
Sache einen Gefallen tut…)


Müssen wir bald Harry Potter aus dem Lesesaal verbannen, weil einige die
politischen Überzeugungen von J.K. Rowling nicht teilen? (Und warum zählen
in der Diskussion über Transgender-Rechte nur die Stimmen von radikalen
Aktivisten, nicht aber die von gemäßigten Leuten wie Dr. Erica Anderson und
Buck Angel?

Zu ersterer:
https://quillette.com/2022/01/06/a-transgender-pioneer-explains-why-she-stepped-down-from-uspath-and-wpath/

Zu letzterem:
https://podcasts.apple.com/us/podcast/buck-angel-helena-kerschner-on-trans-and-detrans/id1536984072?i=1000517496862
)


Müssen wir die Bücher von Chimamanda Ngozi Adichie „canceln“, weil sie ein
(unheimlich lesenswertes!) Essay gegen „Cancel Culture“ verfasst hat?
(Besonders Part 3 ist wunderbar; hier;
https://www.chimamanda.com/news_items/it-is-obscene-a-true-reflection-in-three-parts/
)


Und kaufen wir zu Rassismus-Themen irgendwann nur noch Ibram X. Kendi,
Robin DiAngelo und Nikole Hannah-Jones, während wir John McWorther, Coleman
Hughes, Glenn Loury, Kmele Foster und Thomas Chatterton Williams auf den
Index setzen?


Ein großes Problem bei vielen momentanen Diskussionen ist, dass es oftmals
nicht mehr darum geht, Andersdenkende mit sachlichen Argumenten von der
eigenen Meinung zu überzeugen. Vielmehr sind viele (aus berechtigter Angst
vor dem Verlust von Freundschaften, Ansehen und – in Einzelfällen – sogar
ihres Jobs) weitestgehend damit beschäftigt, den Leuten, die ohnehin schon
ihre Meinung teilen, laufend zu versichern, dass man selbst noch auf der
richtigen Seite steht. Und wer nur zu 99% mit einem übereinstimmt, ist
schon der Feind. Das ist keine gesunde Debattenkultur und spielt nur den
(rechten und linken) Feinden der Demokratie und Meinungsfreiheit in die
Hände.


Wir sollten uns vom Gedanken verabschieden, dass Menschen, die nicht zu
100% unserer Meinung sind, dumm oder böse sind.


Unsere Lesesäle sind voll von Werken, die zu irgendeiner Zeit zensiert
wurden, auf dem Index standen, verbrannt wurden oder zu Lebzeiten des
Autors unveröffentlicht blieben, weil sie nicht in den Zeitgeist passten.
(E. M. Forsters „Maurice“ ist ein gutes Beispiel für letzteres.) Wir
sollten es besser machen als unsere Vorfahren, über deren Prüderie,
Kleingeistigkeit, politischen Eifer und Zensurwahn wir heute selbstgerecht
den Kopf schütteln.



Mit pseudonymen Grüßen

Junia



Quellen: Ablehnung gegenderter Sprache

https://de.statista.com/infografik/24913/befragte-die-gendergerechte-sprache-wie-folgt-bewerten/

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1250599/umfrage/bedeutung-von-genderneutraler-sprache-in-den-medien/

https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/weiter-vorbehalte-gegen-gendergerechte-sprache/

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/mdrfragt-umfrage-ergebnis-deutliche-ablehnung-von-gendersprache-100.html

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/grosse-mehrheit-laut-umfrage-gegen-gendersprache-17355174.html
)





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