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Re: [InetBib] Langzeiterhalt von AV-Inhalten ungeloest



Lieber Herr Hilf,

"Eberhard R. Hilf" <hilf@xxxxxxxxxxxxxxxx> writes:

vorneweg, ich war unfair, die URN der Expertise anzugeben. Ich haette 
Ihnen zum bequemen Lesen am Abend http://www.langzeitarchivierung.de 
 "Materialien" No.7  angeben sollen, dort koennen Sie ueber Printing on 
demand sich die Expertise bequem fuer wenig Geld (und nach Wunsch auch 
mit anderen Expertisen in einem Band gebunden) ins Haus schicken 
lassen.

Vielen Dank für den Hinweis, aber die Kosten sind mir leider zu
hoch... Ich habe gleichwohl das PDF gestern abend quergelesen (und
werde es mir übers Wochenende noch gründlicher ansehen). 

Wir sind übrigens auch völlig d'accord, was die Voraussetzungen von
Langzeitarchivierung angeht: reiner Text und hinreichend mächtige
Auszeichnungssprachen wie LaTeX oder HTML/XML.

Aneinander vorbei reden wir aber an einer ganz wesentlichen Stelle,
die sich aber durchweg auswirkt. Ihr Wissenschaftsverständnis ist
nämlich ein ganz anderes als meines. Ich bin nachdrücklich dagegen,
"wissenschaftlich" mit "in Form von mathematischen Formeln
darstellbar" oder ähnliches zu verkürzen.

Ich bin Jurist und deshalb auf die Sozial- und Geisteswissenschaften
ausgerichtet. Also heißt "wissenschaftlich arbeiten" für mich *immer*,
die historische Perspektive mit einzubeziehen. Unser Wissen liegt
nicht in Form von mathematischen Formeln vor, sondern als Text, der
hermeneutisch verarbeitet werden muß.

Damit ist aber auch klar, daß es nicht "die Wissenschaften" gibt,
sondern eben die beiden großen "Kulturen" der Geistes- und der
Naturwissenschaften. So liegt auch das wissenschaftliche Material in
veschiedener Form vor. Die Geisteswissenschaften sind nicht so
"gegenwartsbezogen", wie Sie ausführen: 

eben: zum wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Relativitaetstheorie sind 
die Archivierung der Originalarbeiten eben nicht erforderlich.

Weil das Material (s.o.) in verschiedenen Wissenschaften in jeweils
eigener Form vorliegt, muß sich das auch auf die Archivierung der
Quellen auswirken. Soweit ich mich aus meiner Schulzeit an
naturwissenschaftliche Zeitschriften erinnere, wird dort oft eine
Quelle nur pauschal, also ohne Seitenangabe etc. zitiert, etwa
"Einstein[1]", wie man es von den Standard-BibTeX-Stilen her
kennt. Meine juristischen Aufsätze dagegen haben je etwa 50 Fußnoten
auf fünf Seiten mit eingehenden Fundstellennachweisen. Meine Diss
hatte 844 Fußnoten. Schon die Form der Fußnote ist kaum in TXT oder
HTML lesbar umzusetzen. Die einzig brauchbare Lösung in HTML wäre die
Umwandlung in verlinkte Endnoten, wie man es etwa von OOo oder von
tex4ht (Option: fn-in) her kennt, was der Lesbarkeit aber ganz enorm
schadet. Außerdem -- und dieser Einwand wiegt viel schwerer -- geht
bei dieser Lösung das logische Markup, also die Struktur des Texts,
verloren. Alle bisherigen Lösungen zur Verarbeitung von Fußnoten in
HTML sind deshalb unbrauchbar.

Und hierzu muß man sagen, daß in vielen Bereichen eben nicht mit
reinem Text gearbeitet wird. Unter Juristen und
Wirtschaftswissenschaftlern zB ist Winword üblich. 
Eben, eben: bequem fuer den aktuellen Austausch unter an Winword gewoehnte 
Personen, unleserbar fuer andere. Wir reden hier aber ueber 
Langzeit!!-Archivierung, d.h. fuer Zeitraeume jenseits von Microsoft etc.
Da koennten diese Texte, die jetzt schon fuer viele nicht lesbar sind,
fuer alle verloren sein. Denn der Verschluesselungscode von Winword ist ja
nicht oeffentlich.

Eben. Und trotzdem arbeitet zB unser Frankfurter MPIER intern mit
Winword. Mit Literaturdatenbanken, wie sie mit BibTeX möglich wären,
arbeitet keiner. Wie die Lemminge.

Ich kann Ihnen verraten, daß die Zusammenhänge, über die wir hier
fachsimpeln, bis heute nicht in den sozial- und
geisteswissenschaftlichen Fächern angekommen sind. Ein Bekannter, der
Deutsch, Geschichte und Französisch unterrichtet, sagte einmal, als
ich ihm meine Arbeit im Emacs mit AUCTeX zeigte, das System sei wohl
noch in der Entwicklung, irgendwann werde das sicherlich mal so
aussehen wie Word. Keinem meiner Ausbilder im Referendariat konnte ich
den Vorteil des Arbeitens mit Textdateien und LaTeX nahebringen,
obwohl sie alle von der typographischen Qualität begeistert
waren. Auch so eine herrliche Polemik wie

  http://www.ecn.wfu.edu/~cottrell/wp.html
  
half dabei nicht. ;-) Das ist nicht zu vermitteln, ich habe es
jedenfalls mittlerweile aufgegeben.

Als LaTeX-Anwender bin ich der absolute Außenseiter, alle 
Zeitschriftenverlangen Einreichungen im DOC-Format, und auch der Verlag, 
in dem meine diss erschienen ist, war mit LaTeX völlig überfordert.
Nana: a) ich bin kein LaTeX-fuer-alle Verfechter, sondern moechte nur den
Winword-Nutzern vermitteln, dass alle  TeX-texte seit 1987 fuer jeden 
unter allen Betriebssystemen, Editoren, Browsern lesbar sind oder gemacht 
werden koennen, weil es reiner Ascii-code ist, und die Kommandos 
Klartext sind, d.h. sollte mal einer verloren gehen, bliebe bekannt, was 
der Autor wollte,- und alle tex-Programme seit 1987 sind offener OS-code 
und verstehbar.

Ja.

Auch müßten die Anwender (Studenten, Professoren) davon
überzeugt werden. Das wird sehr schwer werden. 
Einfach: sie setzen als Library ja die Bedingungen was sie nehmen und 
was nicht. Doktoranden kriegen eben sonst ihr Zeugnis nicht.,..

Wenn Sie das "einfach" finden, sollten Sie sich einmal anschauen, wie
es in einem juristischen Fachbereich zugeht... :-( Aber auch die
BWL-Studenten, mit denen ich ein Jahr lang gearbeitet hatte, waren mit
Blick auf IT auf demselben Stand wie die meisten von uns
Juristen. Wenn Sie versuchen, das durchzusetzen, zumal im öffentlichen
Dienst..., werden Sie gegen eine Wand aus Unveständnis und Ignoranz
laufen.

Wenn man einen juristischen Text wegen der Fußnoten (s.o.) nicht
verlustfrei in HTML oder TXT darstellen kann, ohne auf LaTeX
auszuweichen, ist das kein langfristiges Konzept zur Verarbeitung
juristischer Quellen. Und die Konvertierung von DOC zu LaTeX mittels
writer2latex (vgl. Niedermair, DTK 3/2005, S. 59ff.)

  http://www.ooowiki.de/Writer2LaTeX

ist nach meiner Erfahrung zumindest keine Lösung, die man in größerem
Umfang anwenden könnte.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß Jura und Wiwi auf LaTeX umsteigen. 

a) sie muessen es nicht, gibt auch .txt ..

S.o. und erneut: Was machen Sie mit Fußnoten? Sie werden es nicht
erleben, daß die Juristen auf das kryptische numerische Zitierschema
umsteigen, um ihre Arbeiten digital in einem linearen Format wie XML
zu archivieren. Es hat beispielsweise zur Verbreitung von OOo oder SO
gar nichts gebracht, daß es an den Unis kostenlos über die
Rechenzentren verfügbar ist, Studenten und Professoren schreiben in
unseren Fächern weiterhin mit Word. Glauben Sie mir bitte. Da liegt
noch sehr viel Arbeit vor uns, um freie Formate, wie Sie schrieben,
"jenseits von Microsoft" durchzusetzen.

b) Alle Juristen, die von was auch immer auf LaTeX umgestiegen sind,
- und das sind weltweit sehr viele (Google: latex AND JUra AND
Guide) 

Wenn Sie mal genau hinsehen, werden Sie bemerken, daß unter den 155000
Treffern schon auf den ersten drei Seiten jede Menge Abwegiges dabei
ist... 

  
http://www.jura.uni-freiburg.de/service/edv-tutorat/latex/latex_einfuehrung.pdf
 
  sagen: gerade fuer dieses Fach mit seinen oft aufwendigen und auch 
  strukturell aufwendigen Texten mehrere 
  Index/Fussnoten/Literatur/Zitationen-files parallel ist LaTeX die 
  einzige Moeglichkeit, effektiv zu arbeiten.

Das sagen diejenigen, die umgestiegen sind, wie etwa auch ich. Aber
das sind nur ganz wenige. Ich habe gerade eine collection für die
nächste TeXLive für Geistes- und Sozialwissenschaften
zusammengestellt:

  
http://tug.org/svn/texlive/trunk/Master/texmf/tpm/collection-humanities.tpm?view=log

Gerade für den angelsächsischen Bereich gibt es kaum LaTeX-Pakete,
fast alle Erweiterungen speziell für juristische Zwecke (jura,
jurabib, juramisc, jurarsp, neuerdings ratex/juratex), sind nur für
deutsche Juristen geschrieben worden und nur auf Deutsch
dokumentiert. Hier der Überblick aus derjenigen Seite des TeX
Catalogue, die ich pflege:

  http://texcatalogue.sarovar.org/bytopic.html#law

Und wenn man nach Unterstützung für nicht-naturwissenschaftliche
Zwecke für LaTeX sucht, kommt nicht allzuviel zusammen:

  http://www.juergenfenn.de/tex.html#humanities

Es wird Sie demnach wahrscheinlich nicht verwundern, wenn ich
weiterhin skeptisch bleibe, was die Möglichkeiten angeht, quelloffene
Formate in den Sozial- und Geisteswissenschaften zu verbreiten. 

Der einzig gangbare Weg führt wahrscheinlich über die Entwicklung
viel, viel mächtigerer Konverter in diese Formate, also hin zu
XML-Formaten. Daran wird zumindest für BibTeX schon seit geraumer Zeit
gearbeitet. Bei der Recherche für zwei Aufsätze für das PracTeX
Journal 4/2006 und für die DTK 4/2006 war mir schon aufgefallen, daß
die Richtung XML->bib kaum unterstützt wird, fast alle verfügbaren
Konverter funktionierten in der Richtung bib->XML. Weil kaum ein
Bibliothekskatalog Einträge im BibTeX-Format exportiert, wird die
Bedeutung dieses Formats für den Datenaustausch in der weiteren
Zukunft sogar noch weiter abnehmen.

Grüße,
Jürgen Fenn.



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