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Re: [InetBib] Stand der Informationswissenschaft



Man kann sicher darüber streiten, ob es sinnvoll ist, immer wieder über 
den zentralen Begriff der Informationswissenschaft zu streiten. Ist eher 
müßig. Aber man kann doch mit Wittgenstein davor warnen, sich von der 
Sprache verführen zu lassen, nämlich in der Oberflächenidentität der 
verschiedenen Homographen auch eine semantische Identität zu sehen. Wenn 
irgendetwas in der Informationswissenschaft Bestand gewonnen hat, dann 
sicherlich, dass IW keine Natur- oder Ingenieurwissenschaft sein will 
und in der Praxis weltweit auch nicht ist. Wenn Informationstheoretiker 
von Information reden und sie damit wissenschaftlich großen Erfolg und 
Einfluss gehabt haben, ist das noch kein ausreichender  Grund, das 
ebenso für die IW zu reklamieren. Auch wenn die Verwechslung für 
Außenstehende natürlich naheliegt.

Es ist also mehr als fraglich, die großen Informationstheoretiker der 
letzten hundert Jahre zu den Ahnvätern dieser Disziplin zu machen, 
jedenfalls nicht für das gesamte Gebiet. Information in der 
Informationswissenschaft begründet sich nicht durch die 
Informationstheorie. Ich weiss zwar, dass ich Herrn Umstätter nicht mehr 
überzeugen kann. Wir scheinen die Argumenten nur gebetsmühlenartig zu 
wiederholen. Ein Lerneffekt hat das nicht. Zweifellos ist auch die 
Informationstheorie nützlich, wenn man für Information von einen 
Ebenenansatz ausgeht (anstatt Information unproduktiv von Daten, Wissen 
etc. abzutrennen), also von der Code-Ebene von Information, der 
syntaktischen Ebene von I, der semantischen Ebende der I. und der 
pragmatischen Ebene der Information spricht. Schaut man sich die Praxis 
der real arbeitenden Informationswissenschafterlnnen an, so arbeiten 
wirklich nur wenige (Szientometriker im weiteren Sinne) auf der Code- 
und syntaktischen Ebene. So gut wie alle Informationswissenschaftler 
arbeiten auf der semantischen und pragmatischen Ebene. Selbst Umstäter 
spricht von den "Konsequenzen im Wissensbereich", also genau von dem 
Thema, was seine zitierten Informationstheoretiker konsequent 
ausgeblendet hatten:

  Informationswissenschaftler arbeiten (um nur Einiges zu nennen) an 
Wissensrepräsentations- und Metainformationsformen, Ontologien, an 
Verfahren zum (auch automatischen) Indexing und Abstracting, an 
Management- und Qualitätssicherungformen für Information in der Praxis 
heterogener Organisationen, über Formen elektronischen Publizierens, 
einschließlich der Geschäfts- und Organisationsmodelle für den 
proprietären und offenen Austausch von Wissens- und 
Informationsobjekten, über Marketing- und Lizenzierungsformen, an der 
Analyse von Benutzerverhalten und -erwartungen, über die 
Regulierungsformen für Wissen und Information (über Technik, Recht, 
Ethik, Markt), ...., Was hat das alles mit Informationstheorie im Sinne 
der Boltzmann, nach Fisher, Hartley, Kolmogorov, Nyquist, Schrödinger, 
Shannon, Wiener zu tun! Schauen wir uns die Praxis an, was wir als 
Infomationswissenschaftler (weltweit) tun und worüber wir publizierne, 
welche Themen wir in die Curricula einbringen, in welchen Umgebungen die 
Absolventen der Studiengänge arbeiten - sollen wir das alles umstellen, 
nur um reine Infomationstheoretiker zu werden?

Über Bredemeier an sich wäre natürlich viel zu sagen. Vieles, was an 
Defiziten in der IW in Deutschland auszumachen ist, ist nicht zuletzt 
darauf zurückzuführen, dass das Fach hoffnungslos von Anfang an (also 
seit 1980) unterausgestattet wurde und ist. Ich wohne ja jetzt 
überwiegend in Helsinki und Santa Barbara (neben Berlin) und da kann ich 
mir sozusgen vor Ort anschauen, wie das Department of Information 
Studies and Interactive Media (INFIM) - University of Tampere in einem 
kleinen Land wie FInnland oder gar im Department of Information Studies 
in UCLA ausgestattet sind. Da kann man nur traurig oder wütend sein, wie 
wenig hier investiert wurde. Es hat natürlich vielfältige Gründe, worum 
flächendeckend in die verwertungsintensivere Informatik investiert wurde 
- vielleicht war es auch die mangelnde wissenschaftliche Kreativität 
bzw. Produktivität. lst so ein Henne- und Eiproblem, das nur schwer 
aufzulösen ist. Vielleicht gelingt es heute  besser in Düsseldorf, 
Hildesheim, Regensburg oder an der HU im IBI, wo sich die 
Personalsituationen etwas konsolidieren und wo, zunächst einmal deutlich 
erkennbar in Düsseldorf, auch die größeren Publikationen entstehen. 
Ansonsten spricht natürlich nichts dagegen, dass viele der genuin 
informationswissenschaftichen Themen von anderen Disziplinen (nicht nur 
der Informatik) adaptiert wurden. Aber allein schon für die laufende 
Rekrutierung des Nachwuchses für die Lehre sind einige wenige Zentren 
der IW weiterhin unerlässlich. Woher sonst sollen die vielen Lehrenden 
in den Fachhochschulen kommen, wenn das Fach einen hohen 
Professionalisierungsgrad behalten will?

Wenn man sich vergegenwärtigt, mit welch knapper Kapazität z.B. 
Zimmermann in Saarbrücken und ich in Konstanz (um nur die beiden ersten 
Lehrstuhlbereich der IW in D zu nennen) einen ganzen Studiengang 
bestreiten mussten, dann muss man sich nicht wundern, dass die 
wissenschaftliche Aktivität und publizierende Produktivität vielleicht 
bei dem meisten IWlern zu kurz gekommen sind. Es mag dies nicht nur ein 
Unterkapazitätsproblem sein, sondern auch eins der Kreativität, der 
Motivation und der Kompetenz, aber nicht zuletzt die Ausbildungsleistung 
der wenigen Hauptamtlichen sollten wir uns auch nicht von Bredemeier 
klein reden lassen. Aus Konstanz z.B. haben so gut wie alle der 500 
AbsolventInnen, 35 Promovierte etc. gute Stellen in der Berufspraxis 
gefunden, ohne dass sie schwerpunktmäßig als Informationstheoretiker 
ausgebildet wurden, sondern in ihrer Berufspraxis überwiegend mit 
semantischen und pragmatischen Informationsproblemen befasst waren. Und 
nebenbei sind ja in dieser Zeit trotzdem  z.B. aus Konstanz einige 
größere Monographien und Editionen entstanden.

Der Defizite in der IW sind natürlich viele. Aber einige sollten bald 
beseitigt sein: es wird wohl bald wieder eine infwiss Mailing-Liste 
geben (wir hatten schon vor langer Zeit den iw-link), in der Themen wie 
diese nicht in INETBIB geführt werden müssten;  an einer, dann 
europaweiten infwiss OA-Zeitschrift wird gearbeitet, und die Arbeit an 
der 6. Auflage von KSS (früher einmal der LaiLuMu genannt) ist in den 
Startlöchern, wenn wir uns endlich einmal mit dem deGruyter-Verlag auf 
die dringend erforderlichen offenen, nicht exklusiv proprietären 
Konditionen einigen. Den Tip, die früheren Auflagen noch einmal 
durchzuschauen, was bewahrt werden muss, werden wir (Wolfgang Semar, 
Dietmar Stauch  und ich) aufgreifen - für Hinweise darauf wäre ich 
ebenfalls dankbar

Nun ist es doch viel auf einmal geworden, wo ich doch eigentlich nur den 
semantischen und pragmatischen Primat in der IW gegenüber einem 
informationstheoretischen Ansatz behaupten wollte.

RK
Hier ein willkommener Kommentar ;-) zu:
http://libreas.wordpress.com/2011/06/20/informationswissenschaft-2011/
....
Wie soll ich über die Konsequenzen im Wissensbereich diskutieren, wenn die
Diskussionspartner es einfach ablehnen die informationstheoretischen
Grundlagen zur Kenntnis zu nehmen – und das über ein Jahrhundert nach
Boltzmann, nach Fisher, Hartley, Kolmogorov, Nyquist, Schrödinger,
Shannon, Wiener etc.

Fazit: Die Informationswissenschaft braucht wieder ihr gesundes Fundament.
Wer nicht mehr weiß, was das ist, sollte mal in die alten Lehrbücher
schaun.

Ich kenne keine Wissenschaft, bei der man das beobachtet, was bei den
Auflagen des LaiLuMU zu erkennen ist. So manche höhere Auflage hat sich
darauf verlassen, dass man die vorhergehende auch studiert. So wurden
Grundlagen oder historische Entwicklungen einfach nicht mehr übernommen
bzw. überarbeitet, sondern weggelassen, als hätte es sie nie gegeben.

MfG

W. Umstätter





-- 
Prof. Dr. Rainer Kuhlen
Dep. Computer and Information Science
University of Konstanz, Germany
URL: www.kuhlen.name
Email: rainer.kuhlen@xxxxxxxxxxxxxxx

Head od the Board of ENCES (European Network for Copyright in support of 
Education and Science e.V.)- www.ences.eu

Project IUWIS (Infrastructure Copyright for Science and Education)
Humboldt University Berlin: www.iuwis.de

Speaker of the German Coalition for Action "Copyright in behalf of Science and 
Ecucation"-  http://www.urheberrechtsbuendnis.de/index.html.en

I am in Santa Barbara, CA, USA, till August 30th 2011
In case, you need to talk to me urgently, please use Skype: rainer.kuhlen
or US tel landline: 805-845-8023


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Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.