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Re: [InetBib] Stand der Informationswissenschaft



Koll. Kuhlen schrieb:
Man kann sicher darüber streiten, ob es sinnvoll ist, immer wieder über
den zentralen Begriff der Informationswissenschaft zu streiten. Ist eher
müßig.

Diese Feststellung ist ohne Zweifel eine schöne Bestätigung meiner Aussage:
Wie soll ich über die Konsequenzen im Wissensbereich diskutieren, wenn die
Diskussionspartner es einfach ablehnen die informationstheoretischen
Grundlagen zur Kenntnis zu nehmen – und das über ein Jahrhundert nach
Boltzmann, nach Fisher, Hartley, Kolmogorov, Nyquist, Schrödinger,
Shannon, Wiener etc.

Dieser Müßiggang ist aber andererseits insofern wirklich gegeben, als es
der große Vorteil der Wissenschaft ist, dass sich wahres Wissen
letztendlich den vielen Irrwegen und Pseudoerkenntnissen gegenüber
zwangsläufig durchsetzt. Man schaue nur in eine Bibliothek, wie viel
Unsinn, die Menschheit schon hervorgebracht und teilweise auch schon
überwunden hat.

Die nächste Generation der Informationswissenschaftler wird also früher
oder später notwendigerweise auf die richtige Bahn geführt. Es ist aber
die Aufgabe ihrer Lehrer/innen sie von diesen Irrwegen (so weit wie
möglich) zu bewahren, denn das Problem ist, dass es bis dahin unzählige
Verlierer und nur wenige Gewinner geben wird, da es in der Wissenschaft
nach dem Urheberprinzip immer nur einen Sieger gibt, und die Deutschen
sind auf diesem Gebiet bekanntlich selten dabei. Es besteht sogar die
Gefahr, dass sich so manches Ausland im Wettbewerb darüber freut, wie
viele unserer Spezialisten wegweisend für die Irreführung sind.

Aber man kann doch mit Wittgenstein davor warnen, sich von der
Sprache verführen zu lassen, nämlich in der Oberflächenidentität der
verschiedenen Homographen auch eine semantische Identität zu sehen.

So gewichtig hier ein Wittgenstein sein mag, die Warnung in einem
Homographen auch eine semantische Identität zu sehen, dürfte für
Dokumentare, die schon im Studium den Unterschied zwischen Polysemie und
Homonymie lernen, kein echtes Problem sein. Nein! Information ist weder
ein Homonym noch eine Polysem, es ist ein Begriff, der für die
Informationswissenschaft möglichst genau zu definieren ist.

Wenn Goethe wiederholt mit dem Satz zitiert wird: „Mit Worten läßt sich
trefflich streiten“,
wird meist übersehen, dass der Schüler, bei dem sich Mephistopheles damit
lustig macht, sehr berechtigt feststellt: „Doch ein Begriff muß bei dem
Worte sein.
Mephistopheles: Schon gut! Nur muß man sich nicht allzu ängstlich
quälen; Denn eben wo Begriffe fehlen, Da stellt ein Wort zur rechten Zeit
sich ein.“
Der Unterschied zwischen *Begriff* und Wort ist also einfach. Sobald der
Begriff definiert ist, kann man ihm einen Namen geben. Aber die Definition
kann man nicht einfach dadurch ad absurdum führen, dass man beliebig viele
unsinnige Definitionen unter dem selben Namen führt. Das unterscheidet in
allen Wissenschaften den Laien vom Fachmann.

Wenn irgendetwas in der Informationswissenschaft Bestand gewonnen hat, dann
sicherlich, dass IW keine Natur- oder Ingenieurwissenschaft sein will
und in der Praxis weltweit auch nicht ist.

Ein Blick in den LaiLuMU von 1972 zeigt (gleich zu Beginn), dass man
damals noch wusste, dass Information „ein Urphänomen des Lebendigen ist“.
Dort wurde I. auch noch als Phänomen verstanden, mit dem sich „Biologen
wie Mathematiker, Soziologen wie Nachrichtentechniker, Philosophen wie
Politiker zu beschäftigen haben. Seit dem haben etliche
Informationswissenschaftler die Information aus ihrer fundamentalen
Bedeutung immer mehr marginlalisiert und wundern sich heute, dass sie in
der Gesellschaft nicht die Bedeutung hat, die man ihr damals mit Recht
zusprach. Hier hat sich die IW also nicht weiterentwickelt sondern
zunehmend in eine Sackgasse manövriert.

Ich bin sicher, dass sich das auch für Deutschland wieder ändern wird,
bedaure nur all diejenigen Studierenden, die bis dahin noch immer in die
falsche Richtung geschickt werden.

Information in der Informationswissenschaft begründet sich nicht durch
die Informationstheorie.

Historisch betrachtet ist die Informationswissenschaft ganz zweifellos aus
der modernen Informationstheorie Shannon und Weavers hervorgegangen. Das
kann jeder in der Literatur der Jahre nach dem zweiten Weltkrieg
nachprüfen.

Ich weiss zwar, dass ich Herrn Umstätter nicht mehr
überzeugen kann.

Das ist auch nicht notwendig, da Max Planck Recht hatte, dass falsche
Theorien nicht wiederlegt werden, sondern aussterben. Was hier aussterben
wird, ist aus meiner Sicht aber relativ klar.

... dass das Fach hoffnungslos von Anfang an (also
 seit 1980) unterausgestattet wurde und ist.

dürfte in Deutschland genau den Grund gehabt haben, dass die IW nicht die
fundamentale Rolle übernommen hat, die sie in Wirklichkeit hat, sondern in
den weitgehend soziologischen Bereich hinein marginalisiert wurde.

Es hat natürlich vielfältige Gründe, worum
flächendeckend in die verwertungsintensivere Informatik investiert wurde
...

Genau genommen ist diese Informatik bekanntlich weitaus näher am Fundament
der Informationstheorie, als das was etliche Informationswissenschaftler
heute als IW betreiben.

Die Gefahr die ich (und vermutlich noch mehr Menschen) sehen, ist, dass
diese IW auf ihrem Irrweg immer mehr an Bedeutung verliert, während sich
immer mehr Wissenschaftler, wie auch die Informatiker, sich dem Kern des
Problems nähern – dazu gehört auch die begründete Information, die wir
Wissen nennen.


Mit freundlichen Grüßen

W. Umstätter




Man kann sicher darüber streiten, ob es sinnvoll ist, immer wieder über
den zentralen Begriff der Informationswissenschaft zu streiten. Ist eher
müßig. Aber man kann doch mit Wittgenstein davor warnen, sich von der
Sprache verführen zu lassen, nämlich in der Oberflächenidentität der
verschiedenen Homographen auch eine semantische Identität zu sehen. Wenn
irgendetwas in der Informationswissenschaft Bestand gewonnen hat, dann
sicherlich, dass IW keine Natur- oder Ingenieurwissenschaft sein will
und in der Praxis weltweit auch nicht ist. Wenn Informationstheoretiker
von Information reden und sie damit wissenschaftlich großen Erfolg und
Einfluss gehabt haben, ist das noch kein ausreichender  Grund, das
ebenso für die IW zu reklamieren. Auch wenn die Verwechslung für
Außenstehende natürlich naheliegt.

Es ist also mehr als fraglich, die großen Informationstheoretiker der
letzten hundert Jahre zu den Ahnvätern dieser Disziplin zu machen,
jedenfalls nicht für das gesamte Gebiet. Information in der
Informationswissenschaft begründet sich nicht durch die
Informationstheorie. Ich weiss zwar, dass ich Herrn Umstätter nicht mehr
überzeugen kann. Wir scheinen die Argumenten nur gebetsmühlenartig zu
wiederholen. Ein Lerneffekt hat das nicht. Zweifellos ist auch die
Informationstheorie nützlich, wenn man für Information von einen
Ebenenansatz ausgeht (anstatt Information unproduktiv von Daten, Wissen
etc. abzutrennen), also von der Code-Ebene von Information, der
syntaktischen Ebene von I, der semantischen Ebende der I. und der
pragmatischen Ebene der Information spricht. Schaut man sich die Praxis
der real arbeitenden Informationswissenschafterlnnen an, so arbeiten
wirklich nur wenige (Szientometriker im weiteren Sinne) auf der Code-
und syntaktischen Ebene. So gut wie alle Informationswissenschaftler
arbeiten auf der semantischen und pragmatischen Ebene. Selbst Umstäter
spricht von den "Konsequenzen im Wissensbereich", also genau von dem
Thema, was seine zitierten Informationstheoretiker konsequent
ausgeblendet hatten:

  Informationswissenschaftler arbeiten (um nur Einiges zu nennen) an
Wissensrepräsentations- und Metainformationsformen, Ontologien, an
Verfahren zum (auch automatischen) Indexing und Abstracting, an
Management- und Qualitätssicherungformen für Information in der Praxis
heterogener Organisationen, über Formen elektronischen Publizierens,
einschließlich der Geschäfts- und Organisationsmodelle für den
proprietären und offenen Austausch von Wissens- und
Informationsobjekten, über Marketing- und Lizenzierungsformen, an der
Analyse von Benutzerverhalten und -erwartungen, über die
Regulierungsformen für Wissen und Information (über Technik, Recht,
Ethik, Markt), ...., Was hat das alles mit Informationstheorie im Sinne
der Boltzmann, nach Fisher, Hartley, Kolmogorov, Nyquist, Schrödinger,
Shannon, Wiener zu tun! Schauen wir uns die Praxis an, was wir als
Infomationswissenschaftler (weltweit) tun und worüber wir publizierne,
welche Themen wir in die Curricula einbringen, in welchen Umgebungen die
Absolventen der Studiengänge arbeiten - sollen wir das alles umstellen,
nur um reine Infomationstheoretiker zu werden?

Über Bredemeier an sich wäre natürlich viel zu sagen. Vieles, was an
Defiziten in der IW in Deutschland auszumachen ist, ist nicht zuletzt
darauf zurückzuführen, dass das Fach hoffnungslos von Anfang an (also
seit 1980) unterausgestattet wurde und ist. Ich wohne ja jetzt
überwiegend in Helsinki und Santa Barbara (neben Berlin) und da kann ich
mir sozusgen vor Ort anschauen, wie das Department of Information
Studies and Interactive Media (INFIM) - University of Tampere in einem
kleinen Land wie FInnland oder gar im Department of Information Studies
in UCLA ausgestattet sind. Da kann man nur traurig oder wütend sein, wie
wenig hier investiert wurde. Es hat natürlich vielfältige Gründe, worum
flächendeckend in die verwertungsintensivere Informatik investiert wurde
- vielleicht war es auch die mangelnde wissenschaftliche Kreativität
bzw. Produktivität. lst so ein Henne- und Eiproblem, das nur schwer
aufzulösen ist. Vielleicht gelingt es heute  besser in Düsseldorf,
Hildesheim, Regensburg oder an der HU im IBI, wo sich die
Personalsituationen etwas konsolidieren und wo, zunächst einmal deutlich
erkennbar in Düsseldorf, auch die größeren Publikationen entstehen.
Ansonsten spricht natürlich nichts dagegen, dass viele der genuin
informationswissenschaftichen Themen von anderen Disziplinen (nicht nur
der Informatik) adaptiert wurden. Aber allein schon für die laufende
Rekrutierung des Nachwuchses für die Lehre sind einige wenige Zentren
der IW weiterhin unerlässlich. Woher sonst sollen die vielen Lehrenden
in den Fachhochschulen kommen, wenn das Fach einen hohen
Professionalisierungsgrad behalten will?

Wenn man sich vergegenwärtigt, mit welch knapper Kapazität z.B.
Zimmermann in Saarbrücken und ich in Konstanz (um nur die beiden ersten
Lehrstuhlbereich der IW in D zu nennen) einen ganzen Studiengang
bestreiten mussten, dann muss man sich nicht wundern, dass die
wissenschaftliche Aktivität und publizierende Produktivität vielleicht
bei dem meisten IWlern zu kurz gekommen sind. Es mag dies nicht nur ein
Unterkapazitätsproblem sein, sondern auch eins der Kreativität, der
Motivation und der Kompetenz, aber nicht zuletzt die Ausbildungsleistung
der wenigen Hauptamtlichen sollten wir uns auch nicht von Bredemeier
klein reden lassen. Aus Konstanz z.B. haben so gut wie alle der 500
AbsolventInnen, 35 Promovierte etc. gute Stellen in der Berufspraxis
gefunden, ohne dass sie schwerpunktmäßig als Informationstheoretiker
ausgebildet wurden, sondern in ihrer Berufspraxis überwiegend mit
semantischen und pragmatischen Informationsproblemen befasst waren. Und
nebenbei sind ja in dieser Zeit trotzdem  z.B. aus Konstanz einige
größere Monographien und Editionen entstanden.

Der Defizite in der IW sind natürlich viele. Aber einige sollten bald
beseitigt sein: es wird wohl bald wieder eine infwiss Mailing-Liste
geben (wir hatten schon vor langer Zeit den iw-link), in der Themen wie
diese nicht in INETBIB geführt werden müssten;  an einer, dann
europaweiten infwiss OA-Zeitschrift wird gearbeitet, und die Arbeit an
der 6. Auflage von KSS (früher einmal der LaiLuMu genannt) ist in den
Startlöchern, wenn wir uns endlich einmal mit dem deGruyter-Verlag auf
die dringend erforderlichen offenen, nicht exklusiv proprietären
Konditionen einigen. Den Tip, die früheren Auflagen noch einmal
durchzuschauen, was bewahrt werden muss, werden wir (Wolfgang Semar,
Dietmar Stauch  und ich) aufgreifen - für Hinweise darauf wäre ich
ebenfalls dankbar

Nun ist es doch viel auf einmal geworden, wo ich doch eigentlich nur den
semantischen und pragmatischen Primat in der IW gegenüber einem
informationstheoretischen Ansatz behaupten wollte.

RK
Hier ein willkommener Kommentar ;-) zu:
http://libreas.wordpress.com/2011/06/20/informationswissenschaft-2011/
....
Wie soll ich über die Konsequenzen im Wissensbereich diskutieren, wenn
die
Diskussionspartner es einfach ablehnen die informationstheoretischen
Grundlagen zur Kenntnis zu nehmen – und das über ein Jahrhundert nach
Boltzmann, nach Fisher, Hartley, Kolmogorov, Nyquist, Schrödinger,
Shannon, Wiener etc.

Fazit: Die Informationswissenschaft braucht wieder ihr gesundes
Fundament.
Wer nicht mehr weiß, was das ist, sollte mal in die alten Lehrbücher
schaun.

Ich kenne keine Wissenschaft, bei der man das beobachtet, was bei den
Auflagen des LaiLuMU zu erkennen ist. So manche höhere Auflage hat sich
darauf verlassen, dass man die vorhergehende auch studiert. So wurden
Grundlagen oder historische Entwicklungen einfach nicht mehr übernommen
bzw. überarbeitet, sondern weggelassen, als hätte es sie nie gegeben.

MfG

W. Umstätter





--
Prof. Dr. Rainer Kuhlen
Dep. Computer and Information Science
University of Konstanz, Germany
URL: www.kuhlen.name
Email: rainer.kuhlen@xxxxxxxxxxxxxxx

Head od the Board of ENCES (European Network for Copyright in support of
Education and Science e.V.)- www.ences.eu

Project IUWIS (Infrastructure Copyright for Science and Education)
Humboldt University Berlin: www.iuwis.de

Speaker of the German Coalition for Action "Copyright in behalf of Science
and Ecucation"-  http://www.urheberrechtsbuendnis.de/index.html.en

I am in Santa Barbara, CA, USA, till August 30th 2011
In case, you need to talk to me urgently, please use Skype: rainer.kuhlen
or US tel landline: 805-845-8023


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