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Re: [InetBib] Bibliothekar*tag



Liebe Frau Wiesenmüller, vielen Dank für diese spannende Ausführung. 

Vielleicht können Sie meine Fragen zur Geschichte des Namens
beantworten. Ab wann der Name "Bibliothekartag" benutzt wurde, habe ich
noch nicht genau herausgefunden. Zu "Bibliothekarstag" gab es ja schon
eine interessante Quelle (vielen Dank dafür :-) ), die vermuten lässt,
das dies eine Fremdzuschreibung ist. 

Im Zentralblatt für Bibliothekswesen habe ich folgende frühere
Bezeichnungen von Zusammenkünften der Bibliotheksbeschäftigten gefunden
gefunden: 

Die Idee zu einer Versammlung des bibliothekarischen Berufsstandes
brachte Förstemann hier 1884 vor - s. Zentralblatt für Bibliothekswesen
1884 Seite 7. Es wird Bezug auf andere berufsständische Versammlungen
genommen und es ist nur von Männern und von einer Versammlung die Rede.
Frauen gab es in diesem Beruf noch nicht.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=PPN338182551_0001|log11&physid=phys21#navi


Milkau berichtet 1897 über den "Bibliothekar-Kongress" in London. Er
übersetzt "Congress of Librarians" mit "Bibliothekar-Kongress"
(Maskulinum oder Wortstamm?) - s. Zentralblatt für Bibliothekswesen 1897
Seite 454. Auf Seite 459 merkt er (kritisch oder neugierig?) an, dass
auf diesem Kongress nicht nur „zünftige Bibliothekare" anwesend waren,
sondern auch Politiker, „Gönner" und Frauen.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN00025827X 

Bericht über die erste deutsche "Bibliothekarversammlung" - s.
Zentralblatt für Bibliothekswesen 1897 Seite 472. Es versammelten sich
Männer, die dem bibliothekarischen Berufsstand angehörten. Interessant
im Bericht ist, dass die Bibliothek als „Inhaberin" des Gebäudes
bezeichnet wird. Zu jener Zeit waren die Menschen offenbar sehr
genderbewusst. Aber ist „Bibliothekar" in „Bibliothekarversammlung ein
Maskulinum oder ein Wortstamm? Frauen gab es in deutschen Bibliotheken
immer noch nicht.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN000258377 

Bericht über die "Versammlung deutscher Bibliothekare" und Gründung des
"Vereins deutscher Bibliothekare" 1900 - s. Zentralblatt für
Bibliothekswesen 1884 Seite 337. Es gibt die Wörter
„Bibliothekarversammlung" und „Bibliothekarverein". Ob das die von Ihnen
beschriebene Kürzung auf den Wortstamm ist, kann ich nicht beurteilen.
Ansonsten ist im Bericht eindeutig nur von Männern die Rede.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN000260614 

Weiter bin ich mit dieser herrlichen Lektüre noch nicht gekommen. Wie es
mit den Frauen und den bibliothekraischen berufsständischen
Vereinigungen weiterging hatte Karin Aleksaner 2011 kurz zusamengefasst,
als wir uns schon einmal mit dem Namen unserer Veransatltung beschäftigt
haben. Nachzulesen hier
https://www.vdb-online.org/wordpress/wp-content/uploads/2012/01/VDB_Blog_Namens%C3%A4nderung-12.pdf


Was mir jetzt deutlich wird, ist die große Bedeutung der Berufsstände
und der Standeszugehörigkeit sowie der damit verbundenen Würden und
Privilegien zu jener Zeit. 

Wenn bei der von Nik Baumann nun erneut angestoßenen Diskussion (ganz
herzlichen Dank dafür!) einige Kolleg:innen von Marke und Tradition
schreiben, möchte ich fragen, um welche Tradition es Ihnen dabei geht? 

Zum Thema Marke sind hier stichhaltige Argumente aufgeführt
https://www.openpetition.de/petition/argumente/zeitgemaesser-name-fuer-den-bibliothekartag
. Tradition und Rituale sind mir auch sehr wichtig. Sie sind notwendig,
um uns Menschen Stabilität und Verläßlichkeit zu geben. Dennoch ist es
wichtig, sie immer wieder zu hinterfragen. Welche Tradition also? Die
Tradition, sich einmal im Jahr zum Fachaustausch zu treffen? (Find ich
gut) Die Tradition einmal im Jahr zu reisen und sich kollegial zu
besaufen? (Ist mir wurscht) Die Tradition, seinen Stand zu bestätigen
und sich von anderen abzugrenzen? (Find ich überholt und sogar
gefährlich). Welche noch?  Und was davon benötigt welchen Namen? 

Da die Veranstaltung von den berufsständischen Vereinigungen VDB und BIB
getragen wird, ist die zentrale Frage wohl: welchen Beruf oder welche
Berufe vetreten die Vereinigungen und für wen organisieren sie das
Treffen? 

Viele Grüße aus Berlin 

Jana Haase 

Am 2021-06-30 13:56, schrieb Heidrun Wiesenmüller via InetBib:

Liebe Kolleg:innen,

ich bin zwar nicht Germanistin, sondern Anglistin, möchte aber dennoch einen 
sprachwissenschaftlichen Aspekt einbringen.

Disclaimer:

1. Ich gehe nur auf einen einzigen Punkt ein, nämlich das Gendering. Dass es 
weitere Aspekte gibt, ist mir bewusst.

2. Ich habe einen gewissen Lernprozess benötigt, halte aber mittlerweile 
Gendern für sehr wichtig und versuche es persönlich konsequent umzusetzen. 
Auch in der von mir mitverantworteten Fachzeitschrift o-bib wird 
selbstverständlich gegendert.

3. Bitte verstehen Sie meinen Hinweis als zusätzlichen Hintergrund für die 
Diskussion. Weder möchte ich diese abwürgen noch in eine bestimmte Richtung 
lenken. Aber ich würde gerne verständlicher machen, warum der erste Teil des 
Namens "Bibliothekartag" unter Gender-Aspekten nicht von allen gleich 
beurteilt wird.

Mir scheint, dass das Wort "Bibliothekartag" von vielen Menschen heute in 
einer neuen Weise verstanden wird, was vermutlich mit der erhöhten 
Sensibilisierung für Gender-Aspekte insgesamt zu tun hat.

Es wurde schon auf die in einer bestimmten Zeit gängige Wortbildung von 
Personengruppe + Tag für Konferenzen hingewiesen, z.B. Juristentag, 
Germanistentag, Romanistentag, Ärztetag, Historikertag. Der erste Teil des 
Kompositums ist dabei ein Plural, natürlich in der Maskulinform - 
entsprechend dem, was damals üblich war (und wahrscheinlich vielfach auch der 
Realität entsprochen haben dürfte). Das Pendant hätte also "Bibliothekaretag" 
heißen müssen, was aber sprachlich nicht geht; deshalb ist das "e" bei der 
Wortbildung ausgefallen. Der erste Teil des Kompositums ist also gar kein 
vollständiges Wort, sondern nur der Wortstamm (Bibliothekar*).

Man könnte dies als sprachgeschichtlichen Glücksfall betrachten, weil anders 
als z.B. beim "Romanistentag" eben kein generisch-maskuliner Plural im 
Veranstaltungsnamen steht. Die "trunkierte" Form hat kein grammatisches 
Geschlecht und der Wortstamm kann sowohl für "Bibliothekare", 
"Bibliothekarinnen" oder "bibliothekarisch" stehen. (Nebenbei: Ich erinnere 
mich daran, dass beim Übergang von RAK auf RDA kritisiert wurde, dass 
Abkürzungen wie "Hrsg." zugunsten der Vollformen aufgegeben wurden. Denn 
damit gab es plötzlich ein Gendering-Problem, das man mit der Abkürzung nicht 
hatte.)

Ich habe tatsächlich erst aufgrund der aktuellen Diskussion verstanden, dass 
viele innerhalb und außerhalb unseres Berufsstands den ersten Teil des 
Kompositums nicht wie ich als verkürzten Plural, sondern als Singular 
Maskulin auffassen, also als "Tag des Bibliothekars". Das erklärt dann auch 
die kuriose Form "Bibliothekarstag", die ich in jüngerer Vergangenheit immer 
öfter gehört habe.

Wenn man den Namen als "Tag des Bibliothekars" versteht, dann kann ich sehr 
gut nachvollziehen, dass man sich daran stößt. Und wenn diese Lesart im Jahr 
2021 offenbar weit verbreitet ist, dann kann man das natürlich auch nicht 
ignorieren.

Aber vielleicht wird für diejenigen, die das so auffassen, jetzt 
verständlicher, warum andere bei dem Namen gar keine Gender-Problematik sehen.

Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller

-- 
Jana Haase 

Am Friedrichshain 19 c 

10407 Berlin 

Tel. 030 441 50 84

Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.